1. Kapitel
Leeza erwachte plötzlich, irgendetwas musste sie aufgeschreckt haben. Obwohl ihr Zimmer im Licht des Vollmondes hell schimmerte, hatte sie zuerst Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Sie wusste zwar, sie lag in ihrem Bett, aber alles kam ihr seltsam fremd vor und sie fühlte sich unbehaglich.
Nach einer Weile setzte sie sich auf und lauschte. Sofort wurde ihr klar, was sie störte: Es war zu ruhig! Viel zu ruhig. Diese ungewohnte Stille hatte sie wohl geweckt. Weder hörte sie das Plätschern des Brunnens noch das leichte Rascheln der Blätter in den Bäumen vor dem Haus. Es schien gerade so, als ob die Zeit stehengeblieben wäre. Sie warf einen Blick zum dickbauchigen Wecker auf dem Nachttisch, aber seine Zeiger rührten sich nicht vom Fleck. Er war um Punkt drei Uhr stehengeblieben.
Um der Sache auf den Grund zu gehen, schlüpfte Leeza leise aus dem Bett und ging ans Fenster. Im Mondlicht sah sie alles ganz genau, doch was sie da erblickte, verschlug ihr den Atem. Das Wasser im Brunnen vor ihrem Haus war zu Eis erstarrt! Als riesiger Eiszapfen ragte der Wasserstrahl in den Trog hinein, und hoch im Baum vor ihrem Fenster sah sie eine Eule, die reglos in der Luft hing. Eingefroren! Leeza rieb sich die Augen und dachte: Das ist unmöglich. Ich muss träumen. Wenn ich mich jetzt kneife, werde ich aufwa-chen und alles wird sein wie sonst. Mit geschlossenen Lidern kniff sie sich kraftvoll in den Arm.
»Aua!« Nein, sie lag nicht träumend im Bett, stand immer noch am Fenster und draußen war alles vereist.
Das Geschehen war ihr absolut unerklärlich und sie beschloss, ihre Mutter Lyzea zu befragen. Sie wandte sich vom Fenster ab, ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig und leise, um die beängstigende Stille nicht zu durchbrechen. Die Tür zum Zimmer ihrer Mutter stand offen, Leeza nahm an, sie würde sie unten im Wohnzimmer oder in der Küche finden, und ging langsam die knarrende Holztreppe abwärts. Noch bevor sie ganz unten angekommen war, hörte sie aus dem Wohnzimmer leise Stimmen. Eine davon war die ihrer Mutter, die andere war Leeza unbekannt. Die ganze Situation wurde immer seltsamer. Wieso unterhielt sich ihre Mutter mitten in der Nacht mit einem Fremden? Ausgerechnet ihre Mutter, die sich normalerweise tunlichst von allen nicht bekannten Menschen fernhielt, und das in einer Nacht, in der die Zeit stehengeblieben war.
Zögernd ging Leeza auf die angelehnte Tür zu und wusste nicht recht, was sie machen sollte. Eigentlich hatte sie ihr Zimmer verlassen, um sich genauer umzusehen und alles mit ihrer Mutter zu besprechen. Jetzt aber, wo sich so unerwartet jemand Unbekannter in ihrem Haus befand, war sie nicht sicher, ob sie stören sollte. Sie hatte die Tür noch nicht ganz erreicht, als die sich wie von Geisterhand ganz öffnete und den Blick ins Wohnzimmer freigab.
Lyzea saß mit einer Frau am Esstisch. Sie schienen nicht im Geringsten überrascht, Leeza zu sehen, denn ihre Mutter sagte nur: »Wir haben dich schon erwartet. Komm zu uns.«
Unsicher betrat Leeza das Wohnzimmer und blieb nach ein paar Schritten stehen. Obwohl ihr diese Frau vollkommen fremd war, fühlte sie sich von ihr angezogen, und das verwirrte sie zutiefst. Die Fremde war inzwischen aufgestanden, sie war groß und schlank, ihr Haar war dunkellila und reichte ihr fast bis zur Hüfte. Sie ging auf Leeza zu und schaute ihr in die Augen. Der Blick aus den fast schwarzen Augen fesselte Leeza, sie hatte das Gefühl, in tiefes Wasser zu fallen. So sehr sie sich auch bemühte, es war ihr nicht möglich, sich daraus zu lösen, und fühlte sich immer weiter hinab in eine unergründliche Tiefe gezogen.
Wenn mich diese Augen nicht bald loslassen, werde ich noch in ihnen ertrinken, dachte sie, als sie von weit weg die Stimme Lyzeas sagen hörte: »Lass sie los, Syvenia. Ich sagte dir doch bereits, nur Lestre kann den Zauber brechen.«
Nun ließ der Blick der Frau, die offenbar Syvenia hieß, sie endlich los. Leeza tauchte wie betäubt aus der Tiefe auf. Die Fremde war mit diesem Blick bis in ihre Seele vorgedrungen und hatte ihr auf geistiger Ebene Fragen gestellt, die sie jetzt aber nicht mehr benennen konnte. Sie schwankte und wäre hingefallen, hätte ihre Mutter sie nicht festgehalten.
»Komm, setz dich, Leeza.« Lyzea führte sie behutsam zu einem Stuhl am Esstisch.
Leezas Beine waren noch immer ganz wackelig und sie war dankbar, sich setzen zu können. Die beiden nahmen ihr gegenüber Platz. Langsam schaute sie von ihrer Mutter zu Syvenia und wieder zurück.
Niemand von ihnen sprach für eine ganze Weile. Als Leeza schließlich ihre Mutter fragen wollte, was das alles zu bedeuten hätte, durchbrach Syvenia das Schweigen. »Wieso hast du einen so starken Zauber angewandt, Lyzea?«
»Ich wollte ganz sicher gehen, dass niemand Falscher das Wissen in Leeza zurückholen kann. Niemand außer Lestre sollte dazu in der Lage sein.«
»Das zeugt von großem Vertrauen in den Magier.«
»Du weißt genau, ich habe Lestre immer vertraut. Bei der ganzen Sache ging es nie um ihn, nur um Leezas Schutz. Sie musste um jeden Preis behütet werden, bis die Zeit gekommen war.«
»Und nun ist es so weit. Es ist für Leeza an der Zeit, ihre Bestimmung anzunehmen und zurückzukehren.«
Je länger Leeza diesem seltsamen Gespräch zuhörte, desto verwirrter wurde sie. Zuerst erstarrte alles, dann fand sie ihre Mutter mitten in der Nacht mit dieser seltsamen Frau in ihrem Wohnzimmer und jetzt auch noch dieses Gespräch. Was zum Teufel ging hier vor?
Sie beschloss, sich den beiden Frauen in Erinnerung zu rufen. »Hallo, ich bin noch hier und höre euch zu. Wollt ihr mir nicht endlich mal erklären, worum es hier geht? Wovor musste ich geschützt werden, und was für eine Bestimmung soll ich annehmen?«
Die beiden Frauen hielten inne und schauten Leeza erstaunt an, gerade so, als ob sie sich erst jetzt bewusst würden, dass sie noch da war. Lyzea schüttelte nachdenklich den Kopf, erwiderte aber nichts. Da Leeza nun endlich mal eine Antwort wollte, forderte sie: »Du könntest vielleicht damit anfangen, mir zu sagen, wer diese Frau ist, Mom.«
Bevor Lyzea etwas sagen konnte, antwortete die Fremde: »Ich bin Syvenia, eine Magierin des inneren Zirkels von Kysano.«
Leeza starrte Syvenia an und fühlte, wie sich in ihrem Innersten etwas regte. Der Name Kysano rief ein unerklärliches Gefühl der Vertrautheit und der Freude in ihr hervor. Sie glaubte plötzlich, sich an etwas zu erinnern, aber bevor ihr Bewusstsein diese Bilder fassen konnte, waren sie auch schon wieder verschwunden. Durch diesen seltsamen Vorgang in ihrem Kopf war Leeza nun noch verwirrter als vorher und blickte verunsichert zu ihrer Mutter, die seufzte und sagte: »Das wird eine schwierige Sache.«
Leeza fiel wieder ein, weshalb sie ursprünglich zu ihrer Mutter wollte. »Wieso ist alles erstarrt, als ob die Zeit stehengeblieben wäre?«
»Weil die Zeit wirklich stehengeblieben ist, als Syvenia das Portal der Welten geöffnet hat.«
»Das Portal der Welten? Was bitte soll denn das sein?«
»Es verbindet Kysano mit dieser Welt und wenn es geöffnet wird, bleibt die Zeit hier stehen.«
Leeza sah Syvenia verwirrt an. »Aber wieso sind meine Mutter und ich nicht steifgefroren wie alles rundum?«
»Weil ihr der Grund für mein Kommen seid und genau wie ich von Kysano stammt.«
»Was? Wir kommen von Kysano? Wo liegt das denn überhaupt?« Ruhelos sprang Leeza auf und umrundete den Tisch. Beide Frauen sahen ihr zu und schwiegen, also setzte sie sich genervt wieder auf ihren Stuhl.
Jetzt erst fuhr Lyzea fort. »Wir sind hierhergekommen, als du noch klein warst, Leeza. Es liegt hinter dem Portal der Welten.« Wieder verstummte sie. Leeza war dieses Wechselspiel von Informationsbrocken und dann wieder Schweigen langsam leid.
»Also lasst mich doch alles mal zusammenfassen«, sagte sie gereizt. »Wir kommen also ursprünglich aus einer Welt namens Kysano. Diese Welt liegt irgendwo hinter dem Portal der Welten, das Syvenia geöffnet hat, um zu uns zu kommen, und durch das Öffnen dieses Portals ist die Zeit für alle außer uns eingefroren. Syvenia ist eine Magierin des inneren Zirkels von Kysano, was auch immer das ist. Und was war da noch? Ach ja, ich habe anscheinend eine Bestimmung, die ich jetzt annehmen muss. Habe ich das bisher richtig verstanden? Sagt mal, wollt ihr mich veräppeln?« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Ja, das hast du richtig verstanden und nein, wir wollen dich nicht veräppeln. Das ist jetzt alles sehr verwirrend für dich und wir haben nicht genug Zeit, um dir alles zu erklären, denn das Portal der Welten darf nicht zu lange geöffnet bleiben«, meinte ihre Mutter, ohne auf Leezas Tonfall einzugehen. Dann wandte sie sich Syvenia zu. »Du musst jetzt gehen, du bist schon viel zu lange hier. Komm im Morgengrauen wieder, bis dann wird alles bereit sein.«
»Bist du dir sicher?«
»Es geht nicht anders. Du kannst nicht hierbleiben, bis ich Leeza wenigstens das Nötigste erklärt habe. Die Gefahr, dass das Portal entdeckt wird, ist zu groß.«
»Ja natürlich, das Risiko ist wirklich zu groß. Ich werde also bei Sonnenaufgang wieder hier sein.« Syvenia stand auf, hob die Arme über den Kopf und bewegte sie dann in einer schnellen Bewegung nach unten. Sofort erschienen die Konturen eines großen, in allen Farben schimmernden Torbogens. Sie nickte zuerst Leeza und dann Lyzea zu, machte einen Schritt vorwärts in das Tor hinein und war im gleichen Augenblick verschwunden. Der Torbogen löste sich wieder auf und nichts erinnerte mehr an das, was eben geschehen war.
Leeza, die das wie gebannt beobachtet hatte, löste langsam ihren Blick von dem Punkt in ihrem Wohnzimmer, wo sich vor Sekunden noch dieses seltsame Tor befunden hatte. »Das war das Portal der Welten? Das alles ist real?«
»Ich schulde dir wohl einige Erklärungen, aber mein Problem ist, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
Da Leeza nicht wusste, was sie darauf sagen sollte, ging sie zum Fenster und blickte hinaus. Im Brunnen vor ihrem Haus lief das Wasser wieder, und die Eule, die sie vorhin von ihrem Schlafzimmerfenster aus gese-hen hatte, war fortgeflogen.
»Die Zeit läuft wieder«, bemerkte sie zu ihrer Mutter, die neben sie getreten war.
»Ja, weil Syvenia das Portal hinter sich geschlossen hat, nachdem sie hindurch war.« Lyzea legte Leeza den Arm um die Schulter und drückte sie an sich.
Das Mädchen wandte ihr das Gesicht zu und sah mit Erstaunen, dass die Augen ihrer Mutter voller Tränen waren. »Wieso weinst du?«
Lyzea schaute sie an, schüttelte den Kopf und murmelte: »Das Ende der Nacht ist gekommen und das Mädchen ist aufgewacht. So steht es geschrieben und so ist es geschehen.«
»Ich verstehe nicht. Wo steht das geschrieben und was bedeutet es?«
Lyzea wischte sich die Tränen aus den Augen. »Das ist im Moment nicht wichtig, glaub mir. Es gibt noch genug Dinge, die ich dir wenigstens ansatzweise erklären muss, bevor du dann mit Syvenia mitgehen kannst. Wir müssen fertig sein, bevor sie zurückkommt.«
»Wohin soll ich denn mit Syvenia gehen?«
»Nach Kysano natürlich. Wohin denn sonst?«
»Moment mal, du meinst tatsächlich, ich soll mit einer Frau, die ich nie zuvor gesehen habe, irgendwohin gehen? Das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Doch. Nicht irgendwohin, sondern nach Kysano.«
Leeza trat einen Schritt zurück und starrte ihre Mutter an. »Ach wirklich? Und wieso genau sollte ich das tun?«
»Weil die Zukunft Kysanos von dir abhängt.«
»Was meinst du denn jetzt bitte damit? Was habe ich damit zu tun, verdammt?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Später wirst du mehr erfahren, aber jetzt ist weder die Zeit noch der Ort dazu. Einige Dinge muss ich dir aber erklären, damit du beginnst zu verstehen. Ich ...«, sie zögerte einen Moment, atmete tief durch, »... ich bin ebenfalls eine Magierin des inneren Zirkels von Kysano.«
»Du? Du bist eine Magierin?« Leeza starrte sie völlig entgeistert an. Dies alles war so unwirklich. Aber noch während sie darüber nachdachte, ob es nicht doch ein Traum sei, wurde ihr bewusst, es war keiner. Sie wusste ganz einfach, das, was eben gesagt worden war, entsprach der Wahrheit.
»Du hast eben realisiert, dass es so ist, und hast keine Ahnung, wieso du das weißt, richtig?« Lyzea lächelte.
»Wieso merkst du das?«
»Ich habe es so vorgesehen. Es war klar, all dies würde eines Tages geschehen, und ich würde dir keine wirkliche Erklärung dafür geben können. Also musste ich dafür sorgen, dass du die Wahrheit von selbst erkennst, wenn es so weit ist.«
Leeza dachte eine Weile über diese Worte nach und sagte dann: »Okay, lassen wir das mal so stehen. Was du mir aber sicher beantworten kannst, ist die Frage, wieso du immer nur von mir sprichst. Was ist mit dir? Kommst du etwa nicht mit?«
»Nein, ich kann leider nicht. Ich habe noch einige Dinge zu erledigen, die sehr wichtig sind. Ich werde später nachkommen.«
Diese Antwort gefiel Leeza überhaupt nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, allein mit dieser Syvenia nach Kysano oder auch sonst wohin zu gehen.
»Kann diese sehr wichtigen Dinge nicht jemand anders machen?«
»Diese Dinge kann nur ich tun. Es ist mir bestimmt, genauso wie es dir bestimmt ist, jetzt zurückzukehren.«
»Was sind das denn für Dinge?
»Das ist noch so eine Frage, die ich dir nicht beantworten kann.«
»Wenn du mir nichts sagen kannst, sind wir bestimmt fertig, bis Syvenia wiederkommt«, sagte Leeza trocken. Sie wandte sich von ihrer Mutter ab und schaute wieder zum Fenster hinaus.
Lyzea seufzte. »Es tut mir leid, aber es gibt Themen, die hier unter keinen Umständen besprochen werden dürfen. Syvenia wird dir etwas mehr erklären können, wenn ihr erst in Kysano seid. Hier darüber zu sprechen, wäre einfach zu gefährlich. Dinge könnten aufgedeckt werden, die noch im Verborgenen bleiben müssen. Ich weiß sehr genau, auch diese Antwort ist nicht wirklich befriedigend, aber ich kann dir nicht mehr sagen. Eigentlich habe ich schon zu viel gesagt.«
Nach diesen Worten schwiegen beide. Lyzea wusste, ihre Tochter brauchte Zeit, um sich darüber klar zu werden, dass dies alles so geschehen musste, und sie beide keine Wahl hatten. Vor Langem hatte sie dieses Wissen in Leezas Innerstem verankert, damit sie auch ohne lange Erklärungen mit Syvenia mitgehen würde, wenn der Moment des Aufbruchs kam.
Nachdem einige Minuten vergangen waren, entschied Lyzea, es sei nun an der Zeit, das Schweigen zu brechen. »Komm, Leeza, setz dich an den Tisch, ich mach uns Frühstück. Auch wenn ich dir nur wenig sagen kann, gibt es doch einige Dinge zu besprechen.«
Leeza drehte sich um und beobachtete ihre Mutter, wie sie zum Herd ging, um Wasser zu kochen. Nichts an ihrem Äußeren hatte sich verändert. Sie war immer noch klein und zierlich mit schulterlangem goldblondem Haar, aber es schien Leeza, als würde sie sie zum ersten Mal richtig sehen. Das neue Wissen darüber, dass ihre Mutter, die ihr doch vertrauter war als jede andere Person, in Wirklichkeit eine Magierin war, erschütterte sie. Wie sollten sie jemals in die alte Vertrautheit zurückfinden, wo doch ihr ganzes bisheriges Leben anscheinend eine einzige Lüge gewesen war?
Aber während sie noch über all dies nachdachte, regte sich etwas in ihr und forderte sie auf, genauer in sich hineinzuhorchen. Denn trotz all diesen verwirrenden Gedanken wusste ein Teil von ihr, ihre Mutter war immer noch dieselbe, die ihr vor wenigen Stunden eine gute Nacht gewünscht hatte. Es war nur so, dass sie jetzt etwas erfahren hatte, wovon sie vor der heutigen Nacht offenbar nichts wissen durfte. Sie stammten von Kysano, wo immer das auch war, und ihre Mutter war eine Magierin. Dies war die Wahrheit, die Leeza akzep-tieren musste, und wenn sie ganz ehrlich war, fing dieser Gedanke ihr sogar langsam zu gefallen an. Mit dieser neuen Erkenntnis sagte sie schließlich lächelnd: »Frühstück klingt gut, aber vorher sollte ich mich wohl besser umziehen.«
Sie lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer, nahm ihre verwaschene Lieblingshose und einen dunkelblauen Pulli aus dem Schrank, ein Paar Strümpfe aus der Kommode und legte alles aufs Bett. Dann ging sie ins Bad, wusch sich und putzte die Zähne. Während sie sich danach die Haare bürstete, betrachtete sie sich im Spiegel. Genau wie bei ihrer Mutter hatte sich äußerlich nichts an ihr verändert. Sie hatte immer noch dieselben braunen Augen mit goldenen Sprenkeln und auch ihr leicht welliges blondbraunes Haar sah noch genauso aus wie vor der Offenbarung. Ein bisschen blass war sie um die Nase, aber das ließ sich wohl schlichtweg durch den Schock erklären. Obwohl sie noch genauso aussah wie vor einigen Stunden, hatte sie das Gefühl, jemand anderen im Spiegel zu betrachten. Nachdenk-lich legte sie die Bürste beiseite und musterte sich. Dann schüttelte sie entschlossen den Kopf, streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und lief aus dem Bad ins Zimmer zurück. Sie zog sich um, schlüpfte in ihre schwarzen Turnschuhe und eilte hinunter ins Wohn-zimmer. Dort betrachtete sie das liebevoll angerichtete Frühstück, das ihre Mutter in der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit her-gerichtet hatte. Darauf musste sie in Zukunft wohl verzichten. Energisch schob sie diesen trüben Gedanken zur Seite, setzte sich an den Tisch.
»Ich habe mich oft gefragt, wie du in ganz kurzer Zeit unsere Mahlzeiten zubereiten kannst, während ich immer ewig dafür brauche. Benutzt du ein bisschen Magie?« Leeza zwinkerte ihrer Mutter zu.
Lyzea lachte. »Nein, das ist keine Magie, einfach nur Übung. Seit wir hier sind, habe ich nur ganz selten Magie benutzt. Der Gebrauch hinterlässt nämlich Spuren, und schließlich wollte ich unseren Aufenthaltsort nicht verraten. Aber nun lass uns frühstücken.« Sie goss Leeza Tee ein und reichte ihr das Brot. Lyzea nahm sich ebenfalls ein Stück und bestrich es mit Butter und Konfitüre.
Nachdem sie gegessen und eine Tasse Tee getrunken hatte, räusperte sich Leeza. »Du hast gesagt, wir müssten noch einige Dinge besprechen.«
»Das ist richtig, aber ich weiß immer noch nicht, wo ich beginnen soll und wie viel ich dir überhaupt schon sagen darf. Auf jeden Fall musst du wissen, ich habe alles, und zwar wirklich alles nur getan, um dich zu schützen, bis der Zeitpunkt da ist. Es kann sein, dass irgendwann Zweifel über meine Vorgehensweise in dir aufkommen. Lass dies nicht zu, sondern vertraue mir auch in dunklen Stunden. Nach und nach wirst du die Geschehnisse besser verstehen und dann wird dir auch klar sein, warum ich genauso und nicht anders handeln konnte.« Nach diesen Worten schwieg Lyzea nachdenklich.
Leeza spürte, ihre Mutter suchte nach den richtigen Worten. Sie schwieg ebenfalls und schenkte noch einmal Tee nach. Nachdem sie dann aber auch diese Tasse ausgetrunken hatte und ihre Mutter immer noch nicht weitersprach, stupste sie sie ungeduldig mit der Fuß-spitze an.
Lyzea tauchte aus ihren Gedanken auf. »Was ich dir jetzt sage, ist sehr wichtig und streng geheim. Nimm das bitte ernst. Du musst mir jetzt gut zuhören und darfst mit niemandem außer mit Lestre oder Kymetos darüber sprechen. Versprich es mir.«
»Ich verstehe zwar überhaupt nicht, worum es hier geht oder wer diese Leute sein sollen, aber ich verspreche es.«
Lyzea griff in ihre Tasche, holte einen kleinen Beutel heraus und legte ihn auf den Tisch. »In diesem Beutel liegt deine und unser aller Zukunft. Öffne ihn und nimm deine Bestimmung an, oder lass ihn verschlossen und die Dinge werden ihren Lauf nehmen. Es ist deine freie Wahl. Niemand wird dir einen Vorwurf machen, wenn du dich gegen deine Bestimmung entscheidest. Du musst dir aber bewusst sein, wenn du ihn nicht öffnest, wird dies das Ende von allem Leben sein, wie wir es jetzt kennen.«
»Das nennst du eine freie Wahl?«, fragte Leeza.
»Ja. Aber du musst die Folgen kennen, bevor du sie treffen kannst.«
»Na, das ist ja toll. Wenn ich mich weigere, wird alles Leben ausgelöscht?«
»Das ist richtig. Allerdings weiß niemand wirklich genau, wie oder wann es geschehen wird. Aber es wird ganz sicher das Ende von Kysano sein, Leeza.«
»Bedeutet das auch das Ende für unsere Welt?«
»Ja, da unsere Welt mit Kysano zusammenhängt, ist das die Folge.«
»Und was geschieht, wenn ich den Beutel öffne und damit meine Bestimmung annehme? Was ist dann meine und unser aller Zukunft?«
»Auch dies wissen wir nicht. Wir wissen nicht einmal genau, was du tun musst, um Kysano zu retten. Klar ist nur, du bist die Einzige, die dazu fähig ist.«
Leeza dachte lange über die Worte ihrer Mutter nach und griff dann langsam nach dem Beutel. Sie nahm ihn in die Hand. »Ich spüre nichts. Er ist leer.«
»Der Schein kann trügen. Du erfährst nur dann, was drin ist, wenn du ihn öffnest und hineingreifst. Der Beutel gibt sein Geheimnis einzig dir preis und keinem anderem, denn in ihm ist deine Bestimmung, und niemand außer dir selbst kann darüber entscheiden.«
Nachdenklich wog Leeza den Beutel in ihrer Hand. Er schien so unscheinbar. Ein einfacher brauner Lederbeutel, der oben verschnürt war. Nichts wies darauf hin, sein Inhalt könnte etwas Besonderes sein. Es war nur schwer vorstellbar, dass das, was auch immer in ihm verborgen war, ganze Welten vor der Zerstörung retten konnte. Einerseits fürchtete sie sich ein wenig vor dem, was möglicherweise auf sie zukam, andererseits war ihre Neugier kaum mehr zu bekämpfen.
»Muss ich mich jetzt gleich entscheiden, ob ich ihn öffnen will?«
»Ja, das musst du. Wenn du ihn nicht öffnest, wird er sich innerhalb der nächsten Stunde auflösen. Entscheidest du dich aber dafür, musst du ihn stets bei dir tragen. Er gehört dann zu dir und du darfst ihn niemals weggeben oder verlieren«, antwortete Lyzea ernst. Dann schwieg sie und wartete ab. Sie wusste ganz genau, wie neugierig und abenteuerlustig ihre Tochter war, und es würde nicht allzu lange dauern, bis Leezas Neugier siegte, und sie den Beutel öffnete.
Leeza starrte den Beutel an und fragte sich, welche Wahl sie bloß treffen sollte. Öffnete sie ihn und nahm damit ihre Bestimmung an, musste sie alles hier verlassen. Ihr Zuhause, ihre Freunde. Alles müsste sie zurücklassen, um mit einer Fremden in eine ihr unbekannte Welt zu reisen. Weigerte sie sich, sollte alles zerstört werden. Es würde keinen Ort mehr geben, den sie ihr Zuhause nennen konnte, alle ihre Freunde würden sterben. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, es gab es nur eine mögliche Antwort, und wenn sie ganz ehrlich war, begann ihr der Gedanke an eine Reise ins Unbekannte irgendwie zu gefallen. Sie legte den Beutel auf den Tisch und zog langsam an den ledernen Schnüren, die ihn verschlossen hielten. Dann, als der Beutel sich ein Stück weit geöffnet hatte, griff sie hinein und betastete seinen Inhalt.
»Es ist ein Stein! Wie kann der die gesamte Zukunft ganzer Welten bestimmen?«
»Er ist der Schlüssel für deine Bestimmung. Er selbst, ohne dich, bestimmt nicht die Zukunft von Kysano. Er wird nur dann wichtig, wenn du ihn nimmst. Wir wissen allerdings nicht genau, welche Rolle er spielen wird, nur, dass er zu deiner Bestimmung gehört und ihn niemand außer dir benutzen kann.«
Leeza, die mit dem Stein herumgespielt hatte, während ihre Mutter sprach, zog blitzschnell die Hand aus dem Beutel und blies sich auf die Finger. »Der Stein ist plötzlich ganz heiß, ich habe mich verbrannt!«
»Vermutlich ist es eine Eigenart des Steines, dass er heiß wird, wenn er lange von dir berührt wird. Für irgendetwas wird das wohl eines Tages gut sein«, meinte Lyzea lächelnd.
Leeza saß noch einen Moment zögernd da, atmete tief ein, schloss die Augen und griff dann entschlossen erneut in den Beutel. Sie umfasste den Stein, nahm ihn heraus und legte ihn vor sich auf den Tisch.
Auf den ersten Blick schien er dunkel zu sein, fast schwarz, aber als Leeza ihn genauer betrachtete, bemerkte sie, dass in seinem Inneren verschiedene Farben schimmerten. Sie nahm ihn wieder in die Hand und drehte ihn hin und her, um festzustellen, welche Farbe er denn nun wirklich hatte. Je länger sie ihn festhielt, desto intensiver pulsierten die Farben. Sie variierten von ganz hellem Gelb bis hin zu einem so dunklen Blau, dass er schon fast wieder schwarz erschien. Dann plötzlich explodierten die Farben in ihm und gleichzeitig wurde er wieder so heiß wie zuvor im Beutel. Leeza ließ ihn erschrocken auf den Tisch fallen und beobachtete, wie das Farbspiel in ihm langsam erlosch und er wieder dunkel wurde.
Während dieser ganzen Zeit hatte Lyzea kein Wort gesagt, sondern fasziniert das Farbspiel des Steines und Leezas Reaktion darauf beobachtet. Sie wusste, der Stein hatte soeben eine untrennbare Verbindung mit Leeza hergestellt, und wartete gespannt, wie sie darauf reagierte.
Nach einer ganzen Weile sagte Leeza: »Ich … konnte fühlen, dass dieser Stein … zu mir gehört. Er fühlte sich wie … wie ein verlorener Teil von mir an.«
»Das ist er auch. Er ist deine Bestimmung, also ist er ein Teil von dir. Nur welcher Teil er ist und wofür genau er gut ist, weiß niemand. Du bist die Einzige, die dies herausfinden kann. Dadurch, dass du ihn aus dem Beutel genommen hast, hast du deine Bestimmung an-genommen. Dies kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Weder von dir, noch von jemand anderem.«
Leeza runzelte die Stirn. »Eigentlich sollte mir das Ganze doch angstmachen, oder? Ich habe aber eher ein Gefühl von freudiger Erwartung. Das ist doch seltsam, nicht wahr?«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht«, antwortete Lyzea nach kurzem Nachdenken. »Lass deine Gefühle einfach zu, ohne sie zu werten. Es ist deine Bestimmung. Du hast sie angenommen und kannst es nicht mehr ändern. Wenn du dabei keine Angst verspürst, ist das umso besser.«
»Ich werde also mit Syvenia nach Kysano gehen, um meine Aufgabe zu erfüllen. Das Einzige, was mich dabei wirklich stört, ist die Tatsache, dass du hierbleiben musst.«
»Das kann ich leider nicht ändern. Du musst gehen, denn deine Aufgabe liegt in Kysano. Meine hingegen kann ich in Kysano nicht erledigen. Also musst du gehen und ich bleiben. Jedenfalls für eine gewisse Zeit. Ich kann dir leider nichts über meine Angelegenheiten sagen, denn sie sind ebenso geheim wie dein Stein. Wenn du erst in Kysano bist, werden dir Lestre und Kymetos mehr erklären können.«
Nach diesen Worten saßen sie lange schweigend am Tisch, denn alles war gesagt worden, was im Augenblick verraten werden durfte.
Als Leeza endlich wieder aufblickte, sah sie den rosaroten Streifen am Horizont; die Sonne ging bald auf. Syvenia würde sie gleich holen. Dann ging Leeza mit ihr fort. Vielleicht sah sie ihre Mutter nie mehr wieder. Das Herz wurde ihr schwer und Tränen stiegen in ihre Augen.
Lyzea spürte, was in ihrer Tochter vorging, sie stand auf, legte die Hände auf Leezas Schultern und sagte sanft: »Hab keine Angst. Ich verspreche dir, wir werden uns wiedersehen. Dies ist kein Abschied für immer, nur für eine kurze Zeit.«
Leeza schlang die Arme um ihre Mutter. »Ist das auch wirklich wahr? Du kommst bestimmt bald nach, oder?«
»So schnell wie möglich. Das verspreche ich dir«, versicherte Lyzea, drückte Leeza noch einmal fest an sich und löste sich dann aus der Umarmung. »Hab Vertrauen in deine Intuition. Gleichgültig, was geschieht, hör auf dein Gefühl. Wenn du tief in dich hineinhorchst, wirst du immer die richtige Entscheidung treffen.«
Kaum hatte Lyzea diese Worte ausgesprochen, erschienen wieder die Konturen des großen, farbig schimmernden Torbogens und Syvenia trat in den Raum.
Sie lächelte Lyzea an und sagte: »Die Nacht ist vorbei. Es wird Zeit für Leeza. Hast du ihr die wichtigsten Dinge mitgeteilt?«
»Alles, was erklärt werden darf, und das ist ja wenig genug. Ich vertraue darauf, dass sie bei euch in guten Händen ist.«
»Du weißt, uns ist Leeza genauso wichtig wie dir, also sorge dich nicht um sie. Wir werden gut auf sie aufpassen. Du musst dich auf deine Aufgabe konzentrieren und darfst dich nicht ablenken lassen. Dein Teil ist nicht weniger wichtig als unserer.«
»Das weiß ich doch. Ihr müsst jetzt gehen. Das Portal der Welten war heute schon zu lange offen. Wenn wir noch länger warten, werden sie es finden und dann war alles umsonst.«
Lyzea umarmte Leeza noch einmal und sagte: »Du musst jetzt gehen. Lass uns schnell Abschied nehmen, sonst wird es zu schwer für uns beide. Ich liebe dich, das darfst du nie vergessen.«
»Ich liebe dich auch. Versprich mir noch einmal, dass du nachkommen wirst, sobald du kannst.«
»Ich schwöre es«, versicherte Lyzea und fügte dann mit einem Lächeln dazu: »Aber du sollst nicht ganz allein gehen. Dein Waschbär wird mit dir gehen, damit du einen Vertrauten auf deiner Reise ins Unbekannte hast.«
»Jeera! Den hätte ich doch tatsächlich beinahe vergessen. Wo ist er überhaupt?«
»Er ist doch hier neben dir und wartet auf euren Aufbruch.«
Leeza lachte laut auf. »Das ist ja wohl typisch für dich, Jeera. Leise anschleichen und so zu tun, als wärst du schon die ganze Zeit da gewesen.«
»Also, sind wir bereit zu gehen?«, fragte Syvenia, die sich bisher diskret im Hintergrund gehalten hatte.
»Nein, warte, ich habe noch gar nichts gepackt.«
»Du brauchst kein Gepäck, Leeza. Alles was du brauchst, wird in Kysano auf dich warten«, beruhigte ihre Mutter sie. Dann wandte sie sich Syvenia zu. »Ich vertraue dir meine Tochter an. Tu alles, um ihr zu helfen, denn es wird ein schwerer Weg für sie.«
»Du kennst mich besser als jeder andere. Du weißt, ich werde Leeza nie im Stich lassen.«
Lyzea beugte sich zum Waschbären. »Und du passt mir auch auf Leeza auf, nicht wahr, mein Freund?«
Aus seinen klugen Augen schaute er sie an und stupste sie aufmunternd mit der Nase. Lyzea nickte Syvenia und ihrer Tochter noch einmal zu und trat beiseite.
Syvenia hob die Arme über den Kopf und bewegte sie dann wieder in dieser schnellen Bewegung nach unten. Sofort erschienen die Konturen des Torbogens. Syvenia sah Lyzea noch einmal an und umfasste dann Leezas Hand. Sie gingen miteinander durch das Portal und waren sofort verschwunden. Jeera sprang ihnen hinterher. Nachdem er nicht mehr zu sehen war, löste sich das Portal auf und Lyzea blieb allein zurück.
2. Kapitel
Sobald sie durch das Portal getreten waren, bildete sich über ihnen ein farbiger Kreis, der sich langsam auf sie nieder senkte. Leeza hörte plötzlich Stimmen, die Worte in einer Sprache flüsterten, die sie nicht verstand. Der Kreis hatte sie jetzt ganz umfangen, begann sich zu drehen, und sie hatte das Gefühl, aus großer Höhe hinabzufallen. Dann hörte das Drehen unvermittelt auf, Leeza fühlte wieder Boden unter den Füßen. Der Kreis hob sich und gab sie frei. Syvenia wandte sich dem Portal zu, machte mit den Händen eine schnelle Bewegung von unten nach oben und es löste sich langsam auf.
Danach sah Syvenia Leeza lächelnd an und machte eine weitausholende Geste. »Wir sind in Kysano angekommen, Leeza. Will-kommen daheim.«
Leeza sah sich neugierig um. Sie waren auf einer Waldlichtung gelandet. Das Sonnenlicht brach nur spärlich durch das dichte Grün der Bäume und tauchte alles in ein gedämpftes Licht. Obwohl auf Leeza alles ruhig und friedlich wirkte, sah Syvenia beunruhigt aus und blickte sich prüfend um.
»Wir müssen dringend von hier weg. Komm schnell.« Sie wandte sich um und ging voraus.
Leeza, die Syvenias Eile nicht verstand, folgte ihr nur zögernd. Als aber sogar Jeera sie immer wieder von hinten stupste, sagte sie: »Ist schon gut, ich beeile mich ja schon«, und lief hinter Syvenia her, die am Rand der Lichtung ungeduldig auf sie wartete. Sie gingen durch den Wald, wobei sie keinem Weg folgten, sondern sich quer durch das Gestrüpp schlugen. Obwohl der Wald immer dichter wurde, schien Syvenia sehr genau zu wissen, wohin sie wollten. Leeza hingegen hatte schon lange jede Orientierung verloren. Sie schaute sich nach Jeera um und fragte sich, ob er ähnlich empfand. Gern hätte sie Syvenia gefragt, wohin sie eigentlich wanderten, da sie aber spürte, dass jetzt nicht die richtige Zeit war, um Fragen zu stellen, folgte sie ihr schweigend. Es war klar, Syvenia lag viel daran, schnell voranzukommen, denn immer wenn Leeza etwas zurückblieb, trieb die Magierin sie sofort an.
Als Leeza einmal nach dem Grund für die Eile fragte, antwortete sie nur kurz angebunden: »Es ist nicht sicher hier.«
Während sie voranschritten, betrachtete Leeza die Bäume und Sträucher. Nur einige davon waren ihr vertraut. Es gab verschieden-farbige Laub- und Nadelbäume, und zu ihrem Erstaunen entdeckte sie auch solche, die eine Mischung aus beidem waren. An den Stämmen der Mischlinge rankte sich hellgrüner Efeu empor, während sich auf den anderen vereinzelt Pilze angesiedelt hatten. Es wuchsen auch unzählige Farne, die in der Färbung von knallrot bis dunkelgelb reichten, und an manchen Stellen war der Boden von türkisfarbigem Moos bedeckt. Die halbhohen grünblauen Sträucher waren schwer beladen mit hellblauen Beeren. Ob die wohl essbar waren, fragte Leeza sich, und wenn ja, wonach sie schmeckten.
Nach einer Weile fiel ihr auf, dass die Bäume immer enger beieinanderstanden und deren Äste hoch über ihren Köpfen ein dichtes vielfarbiges Dach bildeten, sodass kaum noch Sonnenlicht durchkam. Leeza merkte, dass sie langsam hungrig wurde, und hätte gerne gewusst, wie weit es noch war, traute sich aber nicht, danach zu fragen, denn je dichter der Wald wurde, desto unruhiger wurde Syvenia. Sie schien etwas zu suchen und Leeza befürchtete, sie hätten sich verlaufen. Mittlerweile kamen sie kaum mehr vorwärts, weil die Sträucher und Bäume so dicht wuchsen. Die Luft war so dick, dass sie kaum mehr atmen konnte.
Syvenia blickte sich immer wieder nach ihr und Jeera um, wohl um sich zu vergewissern, dass sie ihr noch folgten. Nachdem sie sich gefühlte Stunden durch das Dickicht geschlagen hatten, blieb Syvenia unvermittelt stehen, blickte sich prüfend um und führte sie dann schnell durch eine kaum sichtbare Öffnung in einem hohen, stacheligen Gestrüpp auf eine kleine versteckte Lichtung.
»Hier werden wir rasten und den Morgen abwarten. In der Dunkelheit zu wandern, ist gefährlich«, sagte sie. »Warte hier, ich bin gleich zurück. Mir ist klar, du musst sehr müde sein, aber du darfst nicht einschlafen, bis ich zurück bin.« Dann wandte sie sich zu Leezas Erstaunen an Jeera. »Du passt auf, dass Leeza nichts geschieht. Ich bin bald wieder da.«
Syvenia verschwand im Wald, und Leeza setzte sich ins weiche Gras. Sobald sie auf dem Boden saß, merkte sie, wie müde sie war. Sie hatte das bisher nicht gespürt. Auch war ihr gar nicht aufgefallen, dass mittlerweile die Dämmerung eingesetzt hatte. Waren sie wirk-lich so lange unterwegs gewesen oder verging die Zeit hier schneller? Sie streckte die Beine aus und betrachtete Jeera, der sich neben ihr auf dem Boden niederließ, nachdenklich. Er war ihr Begleiter seit Kindertagen und das Einzige, das ihr von ihrer alten Welt ge-blieben war.
Sie stupste ihn leicht an und fragte lächelnd: »Du sollst also auf mich aufpassen? Eher muss wohl ich auf dich aufpassen, was meinst du?«
Jeera schaute sie mit seinem treuen Blick an und rollte sich zufrieden zusammen. Neben ihm streckte Leeza sich auf dem weichen Gras aus und betrachtete das Farbenspiel der untergehenden Sonne. Erstaunt bemerkte sie, wie viele Sterne die hereinbrechende Nacht hervorbrachte. Es waren mehr, als sie je gesehen hatte, und bald war der Himmel ein funkelndes Sternenmeer, in welchem sogar der honigfarbene Mond verblasste.
Um sich wach zu halten, versuchte sie, in der Anordnung der Sterne Figuren zu erkennen. Als sie gerade ein großes Pferd nachge-zeichnet hatte, hörte sie hinter sich ein Geräusch. Erschrocken sprang sie auf und versuchte in der Dunkelheit den oder die Verursacher des Geräusches auszumachen. Sie konnte zwar nichts erkennen, fühlte aber genau, etwas war in der Nähe und die laue Abendluft schien kälter zu werden.
Jeera war gleichzeitig mit Leeza aufgesprungen und hatte sich schützend vor sie gestellt. Er machte die für Waschbären typische Drohgebärde und fletschte die Zähne, offensichtlich bereit, alles zu tun, um sie zu schützen. Leeza zog sich langsam auf die andere Seite der Lichtung zurück, dorthin, wo Syvenia in den Wald verschwunden war. Während sie zurückwich, überlegte sie fieberhaft, was sie machen sollte, falls sie angegriffen wurde. Sie hatte mit ihrer Mutter zwar fast täglich Nahkampf geübt, musste ihr Können aber noch nie in einem Ernstfall anwenden. Wo blieb Syvenia nur?
Leeza blickte nervös in die Dunkelheit des Waldes hinter sich und rief leise den Namen der Magierin.
Zu ihrer Erleichterung tauchte Syvenia sofort auf und nahm die Sache in die Hand. »Keine Angst, ich werde sie verjagen.«
Sie ging an Leeza vorbei, murmelte etwas Unverständliches und plötzlich schoss aus ihren Händen ein Strahl weißen Lichts hervor. Leeza hörte ein heftiges Rascheln und dann wurde die Nacht wieder warm.
»Die Gefahr ist vorbei«, sagte Syvenia. »Verzeih, dass ich so lange gebraucht habe. Ich dachte nicht, dass sie es wagen würden, dir so nahe zu kommen.«
»Wo warst du überhaupt und wer oder was war das eben?«
»Ich habe mich kurz bei unserem Großmagier gemeldet und das durfte ich nicht von hier aus tun, um uns nicht zu verraten. Zu deiner anderen Frage kann ich dir vorerst nur sagen, es waren Schattenwesen.«
»Was ist ein Großmagier?«, fragte Leeza.
»Der große Magier des inneren Zirkels.«
Leeza fühlte, wie ihr Gefühl der Angst und ihre Unsicherheit sich langsam in brodelnde Wut verwandelten, und fragte mühsam beherrscht: »Und was bitte sind Schattenwesen?«
»Wesen der Schatten natürlich«, sagte Syvenia abwesend.
Da Leeza mit diesen nichtssagenden Antworten überhaupt nichts anfangen konnte, nahm ihre Wut überhand und sie erwiderte eisig: »Das beantwortet meine Fragen natürlich vollumfänglich. Ein Großmagier ist ein großer Magier und ein Schattenwesen ist ein Wesen der Schatten. Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Wozu stelle ich überhaupt noch Fragen? Ich bekomme ja doch nie richtige Antworten! Weder von meiner Mutter noch von dir!« Abrupt wandte sie sich ab und setzte sich in der Mitte der Lichtung auf die Wiese. Eigentlich hatte sie erwartet, Syvenia würde sich daraufhin bei ihr entschuldigen oder wenigstens eine ihrer Fragen beantworten, aber sie tat keines von beidem. Im Gegenteil, sie beachtete Leeza überhaupt nicht, sondern starrte weiterhin abwesend in die Dunkelheit.
Langsam verrauchte Leezas Zorn und ihr wurde klar, Syvenia hatte absichtlich nicht auf sie reagiert, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich zu beruhigen. Je mehr Zeit verstrich, desto weniger wusste Leeza, wieso genau sie eigentlich plötzlich so wütend geworden war.
Nach einiger Zeit setzte sich Syvenia zu ihr. »Ich werde erst einmal ein Feuer machen. Das hätte ich schon tun sollen, bevor ich dich allein gelassen habe. Es tut mir wirklich leid. Du hast allen Grund, wütend auf mich zu sein.«
Leeza verstand nicht und fragte verwirrt: »Wieso? Wegen des Feuers? Ich war nicht deswegen wütend, sondern weil meine Fragen nie wirklich beantwortet werden. Übrigens haben wir kein Feuerholz, du kannst also gar keines machen.«
»Dafür brauche ich kein Holz«, erwiderte Syvenia, machte eine kleine Bewegung mit den Fingern und schon brannte ein lustig flackerndes Feuer vor ihnen auf dem Boden.
»Wie hast du das gemacht?« Leeza starrte Syvenia mit großen Augen an.
»Das wirst du auch bald schon können, das war nur mindere Magie. Das von vorhin hingegen war schon etwas schwieriger. Dazu wirst du etwas länger brauchen.«
Da Leeza darauf nichts zu erwidern wusste, schwieg sie und schaute Syvenia zu, wie sie eine kleine Mahlzeit aus Fladen, Beeren und Wasser zubereitete. Nachdem sie gegessen hatten, saßen sie schweigend am Feuer. Leeza betrachtete die züngelnden Flammen und überlegte, wie sie das, was sie beschäftigte, Syvenia erklären sollte.
Nach einer Weile sagte sie: »Ich weiß eigentlich gar nicht, wieso ich hier bin. Weshalb habe ich mich dazu entschieden, meine Bestimmung anzunehmen, und dir hierher zu folgen? War das auch eine Art von Magie?«
»Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen, da ich nicht bei euch war, als deine Entscheidung gefallen ist. Ich vermute aber, die Dinge, die ihr besprochen habt, haben dich überzeugt. Ich kann es dir nicht wirklich erklären. Doch eines ist sicher, weder deine Mutter noch ich haben dich mit Magie beeinflusst. Es war deine eigene Entscheidung. Wieso du sie getroffen hast, weiß ich aber nicht. Es tut mir leid.«
»Ich verstehe es einfach nicht. Mir ist bewusst, ich habe die richtige Entscheidung getroffen, doch warum ich so entschieden habe, weiß der Kuckuck. Das alles ist so verwirrend für mich und ich bin müde. Wahrscheinlich bin ich deshalb vorhin wütend geworden. Ich weiß einfach nicht, was ich denken soll. Ich hatte ein gutes Leben und doch habe ich alles zurückgelassen, ohne groß darüber nachzu-denken.«
Leeza schaute Syvenia so verzweifelt an, dass sich ihr Herz zusammenzog. Sie rückte näher an das Mädchen heran und legte ihr den Arm um die Schulter.
Leeza lehnt sich dankbar an und schloss die Augen.
»Schau, Leeza, ich kann mir ziemlich genau vorstellen, wie du dich fühlst. Du wurdest aus deinem bisherigen Leben herausgerissen und musstest eine schwierige Entscheidung treffen. Du hast viele Fragen, die ich dir noch nicht beantworten kann. Ich kann gut verste-hen, dass das ziemlich frustrierend sein muss.«
Leeza setzte sich wieder auf und schüttelte den Kopf. »Es macht mich traurig. Ich verstehe mich einfach nicht mehr.«
»Es war ein langer Tag für dich und der Marsch war anstrengend. Schlaf ein bisschen. Wir müssen morgen früh weiter und eine große Strecke zurücklegen.« Sie zog eine leichte Decke aus ihrer Tasche hervor und rückte die Tasche dann so zurecht, dass Leeza sie als Kopfkissen benutzen konnte. Als das Mädchen sich hingelegt hatte, deckte Syvenia sie fürsorglich zu. »Ruh dich jetzt aus, ich werde über deinen Schlaf wachen.«
Obwohl Leeza jetzt wirklich sehr müde war, konnte sie nicht gleich einschlafen. Sie dachte über all die Dinge nach, die heute geschehen waren. Trotz oder vielleicht gerade wegen Syvenias vager Erklärung war sie noch immer beunruhigt darüber, dass sie dies alles einfach so mit sich geschehen ließ. Rätselhaft für sie, da sie ihre Entscheidungen bisher stets sehr bewusst getroffen hatte. Sie hatte sich nie von jemandem beeinflussen lassen, höchstens von ihrer Mutter. Ihr fiel ein, sie musste Syvenia unbedingt nach der Aufgabe ihrer Mutter fragen. Der Wunsch, mehr darüber zu erfahren, loderte so stark in ihr, dass sie sich aufsetzte. »Was ist die Aufgabe meiner Mutter?«
»Du sollst jetzt schlafen, hör bitte zu grübeln auf. Wir werden morgen reden. Während wir wandern, werde ich dir einiges erklären. Aber jetzt musst du ruhen.« Syvenia drückte sie sanft zurück auf den Boden. »Schließe deine Augen. Ich werde dir helfen, die nötige Ruhe zu finden.«
Leeza schloss gehorsam die Augen und spürte, wie Syvenias Finger sanft über ihre Stirn strichen. Erstaunt merkte sie, wie die Berührung ihren Geist beruhigte und die bohrenden Fragen daraus entfernte. Es dauerte keine Minute und sie war eingeschlafen.
Als Syvenia sicher war, dass das Mädchen tief schlief, setzte sie sich bequemer hin und schaute dann zu Jeera, der neben ihnen lag und sie anblickte. »Was meinst du, Jeera, soll ich einen kleinen Schutzzauber wagen?«
Jeera setzte sich auf und schaute Syvenia strafend an.
»Leeza schläft tief, sie kann uns nicht hören. Also was meinst du?«
Jeera überlegte eine Weile, bevor er antwortete: »Du weißt doch selbst ganz genau, dass das viel zu gefährlich wäre.«
»Ja, ich weiß, aber nachdem, was vorher geschehen ist, würde ich mich mit einem zusätzlichen Schutz einfach wohler fühlen. Wieso wussten die Schattenwesen, wo sie uns finden?«
»Wahrscheinlich waren sie nur zufällig da und wollten herausfinden, wer oder was wir sind. Du hast sie vertrieben und sie werden nicht wiederkommen.«
»Nein, sie nicht, aber andere vielleicht.«
»Dann müssen wir eben doppelt so gut aufpassen. Wenn du dich durch Magie verrätst, wird Lestre das gar nicht schätzen.«
»Du hast recht. Es ist besser, mit einem unguten Gefühl Wache zu halten, als es sich mit Lestre zu verscherzen. Er hat bestimmt schon meinen kleinen Lichtzauber nicht geschätzt«, sagte Syvenia mit einem müden Lachen.
»Vermutlich. Ich werde jetzt zur Sicherheit einen kleinen Rundgang machen und die Umgebung prüfen.«
»Entferne dich aber nicht zu weit von unserem Lager«, mahnte Syvenia.
»Nein, bestimmt nicht. Ich bin gleich zurück.«
Als Jeera in der Dunkelheit verschwunden war, betrachtete Syvenia Leeza im Schein des Feuers. Sie schlief jetzt ganz gelöst und sah sehr schutzbedürftig aus. Sie schien ein völlig normales siebzehnjähriges Mädchen zu sein. Nichts an ihr ließ die Kraft erahnen, die in ihr steckte. Syvenia seufzte leise auf, als sie daran dachte, wie viel von dieser Kraft Leeza für ihre Aufgabe brauchen würde. Sie wünschte sich, sie könnte ihr das, was auf sie zukam, ersparen. Wie wohl der Großmagier Lestre auf Leeza reagierte, wenn sie einander zum ers-ten Mal begegneten?
Im Gegensatz zu ihr war er gar nicht davon überzeugt, dass die Prophezeiung nur Gutes verhieß. Syvenia wusste jetzt schon, über ihren Alleingang war er keinesfalls begeistert. Wieder seufzte sie auf, dachte daran, was sie erwartete, wenn sie Lestre gegenüberstand. Sie beschloss, diese Gedanken fürs Erste beiseitezuschieben, um Platz für wichtigere Überlegungen zu schaffen. Sie hatte Leeza versprochen, ihr gewisse Dinge zu erklären, und sie war unsicher, wie viel sie überhaupt erzählen durfte, ohne Lestres Erlaubnis zu haben. Alles war so schwierig. Syvenia schüttelte bedrückt den Kopf und seufzte erneut.
»Das war ein tiefer Seufzer, was bedrückt dich?«, fragte Jeera, der plötzlich neben ihr aufgetaucht war.
»Ich habe dich gar nicht kommen gehört, Jeera«, antwortete Syvenia ausweichend.
»Ich war sehr leise und du warst in Gedanken. Worüber machst du dir Sorgen?«
»Über so ziemlich alles. Was soll ich Leeza sagen? Wie soll ich ihr nur alles erklären?«
»Sag ihr nur das Allernotwendigste und überlass alles andere Lestre.«
»Ja, er ist auch so ein Punkt, über den ich mir Sorgen mache. Er wird außer sich sein darüber, dass Leeza jetzt hier ist.«
»Weiß er etwa gar nichts davon, dass du Leeza geholt hast?« Jeera starrte sie ungläubig an.
»Jetzt weiß er es«, erwiderte Syvenia trocken.
»Oh! Jetzt verstehe ich deine Sorge allerdings besser. Er wird toben.«
»Deine Aufmunterung tut wirklich gut.« Ein sarkastisches Grinsen flog über ihr Gesicht.
»Verzeih!«, sagte Jeera mit einem kleinen Lachen.
»Schon gut. Du hast ja recht, er wird wirklich toben. Ich hoffe nur, wenn sein Zorn verraucht ist, erkennt er die gute Absicht hinter meinem Handeln.«
»Das tut er bestimmt, wenn sich seine erste Wut gelegt hat.«
»Ich hoffe jetzt einfach, die ist bereits verpufft, wenn wir bei ihm ankommen. Schließlich sollte ihm auch klar sein, dass wir etwas unternehmen mussten. Wir werden sehen. Jetzt konzentrieren wir uns auf den Weg, der noch vor uns liegt. Und du solltest auch noch etwas ruhen. Morgen brauchen wir viel Kraft.«
»Was ist mit dir, Syvenia?«
»Ich bin nicht müde. Ich werde Wache halten und dabei überlegen, welchen Weg wir einschlagen sollen. Schlaf jetzt, Jeera.«
Gehorsam rollte er sich neben Leeza zusammen und bald war sein leises Schnarchen zu hören.
Nach einer Weile stand Syvenia auf, um einen Kontrollgang am Rand der Lichtung zu machen. Nachdem sie sich versichert hatte, dass keine Gefahr drohte, setzte sie sich wieder neben das Feuer und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Es war wichtig, den richtigen Weg einzuschlagen. Sie durfte nicht nur daran denken, schnell voranzukommen, sie musste auch den Sicherheitsaspekt in Betracht ziehen. Alle möglichen Routen schritt sie im Geist ab und entschied sich schließlich für diejenige, die ihr am schnellsten und am sichersten er-schien. Als diese wichtige Entscheidung getroffen war, fühlte sie sich besser, entspannte den Körper und befreite sich von allen be-lastenden Gedanken. So konnte ein Teil von ihr Wache halten, während ihr anderer Teil ruhte, damit sie trotzdem erholt war.
Leeza erwachte im Morgengrauen aus einem tiefen und traumlosen Schlaf. Im ersten Moment hatte sie keine Ahnung, wo sie war, aber sobald sie sich aufgesetzt und etwas umgeschaut hatte, kam die Erinnerung zurück.
Sie wollte eben aufstehen, als Syvenia aus dem Wald trat und zu ihrem Lager kam. »Guten Morgen, Leeza. Hast du gut geschlafen?«
»Ich habe erstaunlicherweise tatsächlich wie ein Stein geschlafen«, antwortete Leeza lächelnd.
»Nun, das ist wunderbar, denn wir haben heute einen weiten Weg vor uns. Du wirst deine Kräfte gut gebrauchen können. Jetzt wollen wir aber etwas essen. Du kannst dich gleich da drüben bei der kleinen Quelle frisch machen, während ich uns ein Frühstück bereite. Das Wasser ist zwar eiskalt, aber dafür sauber und gut.«
»Die habe ich gestern gar nicht gesehen.«
»Diese Quellen sind nur von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu sehen. Es sind helle Quellen, die die Dunkelheit meiden.«
»Du meinst, sie verschwindet einfach, wenn es dunkel wird?«
»Vereinfacht könnte man das so sagen. Das ist alles etwas kompliziert, aber später wirst du es verstehen.«
»Ja, ja, später werde ich es verstehen, später, immer später.« Leeza verzog den Mund.
»Ich weiß, ich strapaziere deine Geduld mit meiner Hinhaltetaktik, aber es geht im Moment nicht anders. Jetzt beeil dich bitte.«
Leeza ging angesäuert zur Quelle und wusch sich. Das Wasser war wirklich eiskalt, aber es fühlte sich gut und sauber an und schmeckte auch so. Bald fühlte sie sich ganz erfrischt und ging zu Syvenia zurück.
»Dieses Wasser erfrischt nicht nur deinen Körper, sondern auch deinen Geist. Merkst du, dass alles etwas leichter geworden ist?«
»Stimmt«, antwortete Leeza erstaunt und betrachtete das Frühstück, das Syvenia in der Zwischenzeit hergerichtet hatte. Es gab goldgelbe, über dem Feuer gebratene Fladen, rotbackige Äpfel und daumengroße blaue Beeren. Sie setzte sich neben Syvenia auf den Boden und eine Weile aßen sie schweigend. Als sie ihren Hunger gestillt hatten, packte Syvenia die Reste zusammen und verstaute sie sorgsam in ihrer Tasche. Leeza blickte um sich und betrachtete die Lichtung bei Tageslicht genauer. Das kleine Wiesenstück war wirklich gut versteckt. Es schien keinen Eingang zu geben und sie fragte sich verwundert, wie sie diesen Platz überhaupt gefunden hatten und ihn wieder verlassen sollten.
Ihr ging der Waschbär ab, sie blickte sich suchend nach ihm um. »Wo ist Jeera?«
»Ich weiß nicht, ich vermute, er sucht sich etwas zu essen«, antwortete Syvenia vage.
In diesem Moment erschien er am Waldrand, und Leeza hatte den Eindruck, das Gestrüpp würde vor ihm zurückweichen und sich hinter ihm wieder schließen.
»Wenn ihr bereit seid, sollten wir gehen. Je früher wir uns aufmachen, desto besser.« Syvenia ließ die Reste des Feuers mit einer kleinen Bewegung ihrer Finger verschwinden.
Zu dritt gingen sie auf eine Gruppe von dicht stehenden Bäumen zu. Wie sollten sie da nur durchkommen, fragte Leeza sich, aber schon sah sie, wie die Bäume zur Seite wichen.
»Komm schon, Leeza« die Magierin schnippte mit den Fingern, »die Bäume werden nicht ewig warten.«
Leeza schüttelte völlig verwirrt den Kopf, folgte Syvenia dennoch schnell durch die kleine Gasse, die entstanden war. Kaum war sie hindurchgegangen, spürte sie, wie sich die Bäume hinter ihr wieder schlossen. Als sie nach hinten sah, schien es, als wäre dort nie ein Weg gewesen, und die Lichtung war wieder ganz verborgen.
Leeza starrte die Bäume mit offenem Mund an und Syvenia lächelte. »Es geschehen erstaunliche Dinge hier in Kysano und du bist nun ein Teil davon. Komm jetzt, wir wollen sehen, dass wir diesen Wald schnellstmöglich verlassen. Es gibt nur wenige wirklich sichere Orte in ihm. Es ist zwar noch kein dunkler Wald, aber leider auch kein heller mehr. Eines Tages wird auch er sich entscheiden müssen.«
Leeza notierte sich in Gedanken die Frage, was ein dunkler und was ein heller Wald war, und wie sich ein Wald überhaupt für irgendetwas entscheiden konnte.
Ein Zuruf von Syvenia schreckte sie aus ihren Gedanken auf. »Nun los, Leeza. Ich sagte doch, wir müssen uns beeilen.«
Sie blickte auf, sah, dass Syvenia und Jeera bereits ein Stück voraus waren und rannte ihnen hinterher.
3. Kapitel
Eine lange Weile gingen sie schweigend durch den Wald und jedes Mal, wenn Leeza zu einer Frage ansetzen wollte, sagte Syvenia nur: »Jetzt ist noch nicht die Zeit für Fragen. Gedulde dich noch ein wenig.«
Die Magierin war eindeutig beunruhigt, worüber, war Leeza nicht klar. Der Wald erschien ihr sehr friedlich und wunderschön. Es war nicht einer jener Wälder, in denen man sich unwohl fühlte, und die man so schnell wie möglich wieder verlassen wollte. Im Gegenteil, er lud zum Verweilen ein. Leeza hätte sich gerne ein bisschen ins weiche Moos gesetzt, die Bäume, durch die das Sonnenlicht flirrte, genauer betrachtet und geträumt. Er unterschied sich zwar ziemlich von demjenigen hinter ihrem Häuschen, aber dennoch erinnerte sie an ihn. Er war auch so friedlich gewesen und sie hatte es geliebt, darin herumzuwandern.
Ihre Mutter hatte sie darin bestärkt. »Geh und lerne. Im Wald gibt es viele Dinge zu sehen für diejenigen, die ihn mit offenen Augen durchstreifen.« Manchmal hatte sie Leeza auch begleitet. Dies waren besonders schöne Streifzüge gewesen, denn immer hatte ihre Mutter noch etwas entdeckt, das ihr selbst noch nicht aufgefallen war. Einen besonders schönen Baum, eine seltsam geformte Wurzel oder auch einen Ameisenhügel.
»Du musst stets Respekt haben vor der Natur und überhaupt vor allem Lebenden. Das ist sehr wichtig. Das Gute, das du gibst, wird dann auch als Gutes zu dir zurückkommen.«
Leeza dachte daran, wie die Bäume und Sträucher vorhin die Lichtung geschützt hatten. Das war ein weiteres Thema, über das sie mit Syvenia reden wollte, sobald diese zu erkennen gab, dass sie für ihre Fragen bereit war. In ihre Gedanken versunken, stolperte Leeza über eine Wurzel und wäre beinahe hingefallen.
Nun sah sie nach vorn, dort war der Wald schütterer geworden, Licht fiel auf den Pfad, und es konnte es nicht mehr weit sein, bis sie es geschafft hatten. Während der nächsten zehn Minuten wurden die Nadelbäume weniger, bald gab es nur noch Laubbäume mit viel-farbigen Blättern.
Als sie dann endlich diese letzten Bäume hinter sich gelassen hatten, blieb Syvenia stehen und machte eine ausholende Armbewegung. »Wir haben es geschafft. Schau dich um und bestaune die Schönheit von Kysano.«
Vor ihnen lag eine prachtvolle Wiese mit Obstbäumen und tausenden von leuchtenden Blumen, die sich über eine riesige Ebene erstreckte. Zwischen den vielfältigen Blumen und Bäumen schwirrten alle möglichen Insekten umher. Auf der linken Seite entdeckte Leeza in der Ferne ein kleines Dorf. Rechts und vor ihnen hingegen schien die Wiese direkt in den wolkenlosen Himmel überzugehen. Leeza schnaufte erstaunt durch, diese Landschaft berührte ihr Herz.
»Es ist schön, nicht wahr?«
»Es ist herrlich. Ich habe noch nie eine solche Blumenpracht gesehen«, antwortete Leeza lächelnd.
»Es gibt wirklich wunderschöne Orte in Kysano. Leider werden sie immer weniger und wenn wir uns nicht beeilen, wird es auch hier bald trist aussehen.«
»Wo müssen wir jetzt hingehen?«
»Wir werden uns rechts halten, damit wir dem Dorf nicht zu nahekommen. Deswegen müssen wir die ganze Ebene überqueren. Wenn wir ein Stück weiter sind, wirst du eine kleine Bergkette erkennen. Dort liegt das Ziel unserer Reise.«
»Meine Güte, das wird ja lange dauern!« Leeza stöhnte auf.
»Darum müssen wir schnell vorankommen. Jetzt wollen wir aber trotzdem erst rasten und etwas essen.«
Leeza, die über eine Pause sehr froh war, ließ sich gleich dort, wo sie stand, ins Gras fallen. »Das ist nun wirklich einmal eine gute Idee«, meinte sie lachend. »Ich habe nämlich schrecklichen Hunger.«
»Ich auch. Komm, wir wollen uns eine kleine Mahlzeit bereiten. Wir dürfen aber auf gar keinen Fall ein Feuer machen.«
»Warum denn nicht?«
»Wir sollten nicht unnötig auf uns aufmerksam machen, sondern unser Ziel möglichst unbemerkt erreichen«, antwortete Syvenia ernst.
Leeza nahm dies zur Kenntnis und reihte die dazugehörige Frage in ihre länger werdende gedankliche Liste ein. Nach dem Essen wollte sie Syvenia an ihr Versprechen erinnern. Sie nahmen eine kleine kalte Mahlzeit ein, die aus den gleichen goldgelben Fladen und Beeren bestand wie am Morgen, dazu gab es Wasser aus der Quelle, die Syvenia in Flaschen mitgenommen hatte. Sobald sie fertig waren, drängte die Magierin zum Aufbruch. Leeza stand auf und sah sich suchend nach ihrem Waschbären um.
»Jeera ist nicht hier. Wir können nicht ohne ihn aufbrechen.«
»Er ist wohl noch auf der Suche nach etwas Essbarem. Er wird uns schon folgen, sobald er fertig ist.«
»Nein! Ohne Jeera gehe ich nirgendwo hin. Wir können ihn doch nicht einfach in einer ihm völlig fremden Gegend zurücklassen«, sagte Leeza bestimmt und setzte sich wieder.
Syvenia sah Leeza kurz an und dachte: Völlig fremde Gegend ist gut. Wenn du wüsstest. Aber du weißt es eben noch nicht und es ist noch zu früh, um es dir zu sagen. Also werde ich mit dir warten müssen. Wortlos setzte sie sich neben Leeza ins Gras. Es waren keine zwei Minuten vergangen, da erschien Jeera auch schon.
»Da bist du ja endlich, Jeera. Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht!« Leeza sprang erleichtert auf.
Jeera schaute erst Leeza an und blickte dann fragend zu Syvenia. Diese schüttelte unmerklich den Kopf und stand auf.
»Jetzt lasst uns endlich aufbrechen. Es ist schon wieder viel zu spät geworden.«
Als sie einige Minuten unterwegs waren, fasste Leeza Mut und sagte: »Syvenia, du hast mir versprochen, Fragen zu beantworten, während wir wandern.«
»Ja, aber erwarte nicht zu viel, ich werde nicht alles beantworten können. Einiges wird warten müssen, bis die Zeit reif ist.«
»Wie kannst du das wissen? Du kennst meine Fragen noch gar nicht.«
»Ich kann sie mir aber sehr gut vorstellen und weiß deshalb jetzt schon, ich habe wahrscheinlich auf die meisten keine Antwort für dich.«
Leeza schüttelte den Kopf und überlegte, mit welcher Frage auf ihrer langen Liste sie beginnen sollte. Sie beschloss, nicht nach der Aufgabe ihrer Mutter zu fragen, obwohl die Neugier in ihr brannte. Plötzlich war sie nicht mehr sicher, ob sie die Antwort ertragen würde. Stattdessen begann sie nach längerem Überlegen mit der einfachsten Frage, die ihr einfiel: »Wo sind wir hier?«
»In Kysano, das sagte ich dir doch bereits.« Syvenia blickte sie erstaunt an.
»Ich meinte eigentlich eher, wo und was Kysano ist«, präzisierte Leeza.
»Ach so. Nun Kysano ist die Welt, in der wir alle leben, und aus der auch du und deine Mutter stammen. Du hast in all der Zeit in einer Welt … nun, wie soll ich es nennen … etwas außerhalb von Kysano gelebt. Du warst sozusagen in einer Nebenwelt zu Hause. Mehr kann ich dir dazu im Moment noch nicht sagen.«
Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Leeza dachte über Syvenias Erklärung nach und überlegte, ob sie sich damit zufrieden-geben oder nochmals nachfragen sollte. Als sie aber daran dachte, wie viele andere Dinge sie noch wissen wollte, beließ sie es dabei. »Warum habe ich mich dazu entschieden, mit dir zu gehen, Syvenia?«
»Ich vermute, weil du gespürt hast, dass dies deine Bestimmung ist, auch wenn du nicht genau weißt, wieso. Darüber haben wir ja gestern schon gesprochen. Ich nehme an, deine Mutter hat irgendwie dafür gesorgt, dass du schnell die richtige Entscheidung treffen kannst, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.«
Leeza wartete, ob Syvenia noch etwas hinzufügen würde, und als nichts mehr kam, dachte sie über ihre nächste Frage nach. Die bohrende Frage nach ihrer Mutter drängte sie auch jetzt wieder zurück. »Etwas Persönliches … darf ich?« Sie zögerte, aber als Syvenia nickte, sagte sie: »Wer bist du denn eigentlich?«
»Ich bin eine Magierin des inneren Zirkels von Kysano, wie du schon weißt. Sonst kann ich dir im Moment nichts über mich sagen.«
»Kannst du nicht oder willst du nicht?«
»Weder noch, Leeza. Ich darf nicht.«
»Du darfst nicht? Wer verbietet es dir denn? Etwa dieser Großmagier, den du erwähnt hast?« Leeza kickte frustriert ein Steinchen aus dem Weg.
»Ja, genau der«, antwortete Syvenia. Damit schien für sie dieses Thema abgeschlossen zu sein, denn sie schwieg und ihr Gesicht hatte einen abweisenden Ausdruck angenommen.
Leeza musste irgendetwas Falsches gesagt haben und nahm an, die Erwähnung des Großmagiers hatte Syvenia nicht gefallen. Warum dies so war, war ihr aber nicht klar. Offensichtlich sprach Syvenia nicht gerne über sich oder diesen Großmagier. Wenn Leeza von ihr mehr erfahren wollte, musste sie diese beiden Themen unbedingt vermeiden. Eine Weile dachte sie über eine weitere gute Frage nach, die Syvenia wieder zum Reden brachte, dann fiel ihr etwas ein: »Wieso sagtest du gestern Abend auf der Lichtung, du hättest zuerst Feuer machen müssen?«
»Ganz einfach, weil die Schattenwesen Flammen nicht mögen. Wenn ein Feuer gebrannt hätte, wären sie dir nicht so nahe ge-kommen.«
»Sind sie denn gefährlich?«
Syvenia schien lange zu überlegen. Endlich sprach sie, es klang zögernd. »Sie selbst sind nicht wirklich gefährlich. Vermutlich hätten sie dir nichts getan und wollten nur beobachten.«
»Wenn du vermutlich sagst, heißt das aber doch, du bist dir nicht sicher, oder?«
»Ich bin deshalb nicht sicher, weil ich sie nicht gesehen, sondern nur gespürt habe. Wenn man sie nicht sieht, kann man nie sicher sein, ob es helle oder dunkle Schattenwesen waren.«
»Was meinst du damit?«, fragte Leeza verwirrt.
Syvenia ließ sich wieder lange Zeit, bevor sie antwortete: »Es gibt helle und dunkle Schattenwesen. Die hellen stehen eher auf der hellen Seite als auf der dunklen, bei den dunklen ist es umgekehrt. Helle hätten dir sicher nichts getan. Aber dunkle …« Syvenia sprach den Satz nicht fertig, aber das war auch nicht nötig. Leeza verstand auch so, dunkle Schattenwesen hätten sie möglicherweise angegriffen. Sie schauderte im Nachhinein. »Ich spürte, wie die Luft um mich herum kälter wurde, heißt das, sie waren dunkel?«
»Muss nicht sein, denn sind Schattenwesen in der Nähe, haben Magier des Lichts oft ein Gefühl der Kühle, gleichgültig, ob hell oder dunkel«, beruhigte Syvenia.
»Willst du damit sagen, ich bin eine Magierin des Lichts?«
»Ja, natürlich bist du das. Hat dir das Lyzea nicht mitgeteilt?«
Leeza brauchte einen Moment um diese Neuigkeit zu verdauen. »Nein.«
»Oh, na gut. Nun weißt du es ja.«
»Ist das alles, keine weiteren Erklärungen? Einfach nur, nun weißt du es ja?« Leeza blitzte sie verärgert an.
»Was gibt es da noch zu sagen? Du bist genau wie deine Mutter und ich eine Magierin des Lichts.«, erwiderte Syvenia verständnislos.
Leeza stampfte auf. »Ich erfahre ganz nebenbei, dass ich eine Magierin bin und soll das einfach kommentarlos entgegennehmen?«
»Ich weiß nicht, was du von mir erwartest. Du bist eine Lichtmagierin. Da gibt es nichts weiter zu erklären.«
Trotz ihres Ärgers merkte Leeza, dass Syvenia wirklich nicht verstand, worum es ging. Dieses Thema sollte sie auf später verschieben. »Okay, konzentrieren wir uns wieder auf die Schattenwesen. Wie sehen die denn überhaupt aus?«
»Nun, es sind einfach Schatten. Helle oder dunkle Schatten. Ich kann sie nicht besser beschreiben. Du musst sie selbst sehen, um dir ein Bild von ihnen machen zu können.«
»Du sagtest vorhin, sie seien nicht wirklich gefährlich und trotzdem hast du anklingen lassen, dunkle Schattenwesen hätten mich vielleicht angegriffen.«
»Zumeist sind sie feige und greifen nur im Ausnahmefall an. Das Problem ist, sie könnten anderen von uns berichten, und das wäre gar nicht gut. Jetzt habe ich aber genug über die Schattenwesen gesagt. Du wirst noch mehr über sie erfahren, wenn wir an unserem Ziel angelangt sind.«
»Immerhin verstehe ich jetzt wenigstens, wieso du sagtest, du hättest zuerst ein Feuer machen sollen. Das ist die einzige Frage, die du so beantwortet hast, dass ich sie wirklich verstehe.«
Ein kleines Lächeln glitt über Syvenias Lippen. »Es ist für mich nicht einfach, deine Fragen zu beantworten. Ich verstehe sehr gut, dass du damit nicht zufrieden bist. Du bist wirklich sehr geduldig.«
Schweigend gingen sie weiter und als Leeza sich umblickte, sah sie, wie weit sie schon gekommen waren. In der Ferne lag eine Berg-kette vor ihnen und von den Häusern, die sie links von ihrem Rastplatz aus gesehen hatte, war nichts mehr zu sehen.
»Sind das die Berge, von denen du gesprochen hast?«
»Ja. Wir haben eine große Strecke bewältigt, aber wir sollten noch etwas weitergehen, bevor wir rasten. Bist du schon sehr müde?«
»Nein, meinetwegen können wir gerne noch weiter. Was ist mit dir, Jeera? Bist du müde?«
Jeera blickte zu Leeza auf und lief dann schnell ein Stück voraus, wie um zu zeigen, dass er noch viel Energie übrig hatte.
Leeza lachte hell auf und sagte dann zu Syvenia: »Da offenbar noch niemand müde ist, sollten wir wirklich sehen, dass wir voran-kommen.«
Während sie marschierten, schaute Syvenia das Mädchen verstohlen von der Seite an und fragte sich, was in Leeza wohl vorging. Die Geschehnisse waren doch ziemlich viel auf einmal für ein junges Ding. Wieder wünschte sie sich, sie hätte ihr die ganze Sache ersparen können.
Leeza betrachtete beim Gehen die Umgebung genauer und staunte wieder ob der vielfältigen Flora und Fauna. Sie fragte sich, wie es wohl in den Dörfern aussah? Wie waren die Häuser gebaut und wovon lebten die Menschen hier? Es wäre interessant gewesen, das Dorf von Nahem zu sehen. »Wieso mussten wir eigentlich das Dorf weiteräumig umgehen?«, fragte sie.
»Weil wir unser Ziel möglichst unbemerkt erreichen müssen.«
»Ja, das sagtest du bereits. Ich meine, wieso müssen wir unbemerkt bleiben?«
»Es soll noch nicht bekannt werden, dass du hier bist.«
»Wieso denn nicht?«
»Nicht nur ich habe nach dir gesucht. Auch die dunkle Seite ist auf der Suche. Deshalb wäre es nicht gut, wenn wir bemerkt würden.«
»Die dunkle Seite? Bin ich denn wirklich so wichtig?«, fragte Leeza zaghaft.
»Du bist sehr viel wichtiger, als du dir jemals vorstellen kannst.«
Leeza blieb stehen und blickte Syvenia mit einem Ausdruck tiefster Verwirrung an. »Warum denn um alles in der Welt? Ich dachte ehrlich gesagt, meine Mutter übertreibt, als sie davon sprach, wie wichtig ich für die Zukunft von Kysano sei.«
»Das kann ich dir jetzt nicht sagen. Dafür ist es noch zu früh. Wir werden darüber reden, wenn wir an unserem Ziel angekommen sind. Lestre wird dir einiges erklären können.« Aufmunternd nahm Syvenia sie um die Schulter und zog sie weiter.
Leeza versuchte Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Es störte sie gewaltig, dass offenbar alle etwas von ihr wollten, und sie die Einzige zu sein schien, die nicht wusste, was das war. Plötzlich fiel ihr etwas ein, was Syvenia vorhin gesagt hatte und fragte: »Wieso musstest du mich suchen?«
»Weil ich nicht wusste, wo deine Mutter das Portal geöffnet hatte, als sie Kysano mit dir verließ.«
»Aber meine Mutter ist doch auch eine Magierin des inneren Zirkels von Kysano.«
»Ja, schon«, sagte Syvenia vorsichtig.
»Wenn sie also eine Magierin des inneren Zirkels ist und du auch, warum hat sie dir dann nicht gesagt, wohin sie ging? Seid ihr keine Freundinnen?«
»Doch, das sind wir. Wir sind sogar sehr gute Freundinnen«, antwortete Syvenia, erleichtert darüber, dass Leeza nicht, wie sie be-fürchtet hatte, eine andere Frage gestellt hatte.
»Wieso hat sie dir dann nicht gesagt, wohin sie mit mir geht?«, fragte Leeza nochmals.
»Es gibt leider Situationen, in denen man auch vor den besten Freunden Geheimnisse haben muss. Deine Mutter hatte damals ent-schieden, diese Zeit sei gekommen, und sie hatte recht.«
»Aber nahm sie damit nicht in Kauf, dass ihr mich vielleicht niemals finden würdet? Oder dass die dunkle Seite mich zufällig zuerst finden könnte?«, fragte Leeza und starrte nachdenklich auf den Pfad.
»Deine Mutter wusste sehr genau, wir können dich trotzdem aufspüren, auch wenn es so etwas schwieriger war. Und was die dunkle Seite anbelangt, hat deine Mutter dich vor dem Entdecktwerden gut geschützt.«
»Wie meinst du das?«
»Die dunkle Seite hätte dich in deiner Welt niemals entdecken können. Es war nur der hellen Seite möglich, das Portal zu finden und dich nach Kysano zu holen.«
»Die dunkle Seite musste also warten, bis jemand von euch mich nach Kysano geholt hat?«
»Genau. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir unbemerkt bleiben, bis wir an einem sicheren Ort angekommen sind.«
»Jetzt verstehe ich. Oder besser gesagt, ich verstehe ein bisschen besser. Zu behaupten, ich kapiere es ganz, wäre bei Weitem über-trieben.« Leeza lächelte resigniert.
»Ach weißt du, ich glaube, es gibt niemanden, der das Ganze wirklich versteht«, erwiderte Syvenia schmunzelnd..
»Nicht einmal euer Großmagier?«
»Lestre? Ja doch, vielleicht …«
Leeza erinnerte sich daran, dass Syvenia es nicht mochte, über diesen Großmagier zu sprechen, und entschied, besser nicht auf diesem Thema herumzureiten. Als sie zur nächsten Frage ansetzen wollte, blieb Syvenia stehen und schaute um sich.
»Wir sollten hier rasten. Hier ist ein guter Platz, um die Nacht zu verbringen.«
Erstaunt, dass die Dämmerung bereits hereinbrach, sah Leeza sich um. Sie waren ein schönes Stück weitergekommen, die Bergkette war in greifbare Nähe gerückt.
»Meinetwegen können wir auch noch etwas weitergehen. Nur weil du sagtest, wir sollten schnell vorankommen.«
»Stimmt, doch die Nacht ist kein guter Weggefährte für uns. Es ist sicherer, im Morgengrauen wieder aufzubrechen«, sagte Syvenia und setzte sich ins Gras.
»Wenn ich es mir recht überlege, bin ich eigentlich auch für eine Pause.« Leeza setzte sich neben sie und sah sich nach Jeera um. Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich überhaupt nicht um ihn gekümmert hatte. Beruhigt stellte sie fest, dass er ihr das offenbar nicht übel nahm, denn er kam zu ihr getrottet und legte sich zu ihren Füßen.
Syvenia entfachte mit einer kleinen Handbewegung ein Feuer. »Ich dachte, wir dürfen kein Feuer machen?«
»Wenn die Nacht hereinbricht, ist es gefährlicher, keines zu machen. Trotzdem hast du recht und ich werde es nur so groß wie unbedingt nötig halten«, antwortete Syvenia und machte sich daran, das Abendessen zu bereiten.
Leeza betrachtete Jeera, er schien inzwischen zu dösen. Mit Wehmut dachte sie daran, dass er das Einzige war, das sie von ihrem alten Leben hatte behalten können.
»Komm, wir wollen essen«, rief Syvenia. »Es ist zwar nicht besonders viel, aber für heute muss es genügen.«
Leeza blickte auf und betrachtete das Abendessen, das Syvenia hergerichtet hatte. Sie hatte zwei Fladen auf ein Tuch gelegt, dazu gab es getrocknete Früchte und Beeren. Die Fladen sahen aus wie jene, die sie schon kannte. Sie hatten dieselbe goldgelbe Farbe, waren aber dicker, so, als ob sie mit etwas gefüllt wären. Sie nahm sich einen und biss hungrig hinein. Er hatte tatsächlich eine Füllung, die nach Waldbeeren und Nüssen schmeckte und schön süß war.
»Dieser Fladen ist anders als die, die wir bisher hatten.«
»Schmeckt er dir nicht?«
»Doch, doch. Er ist absolut köstlich. Vor allem die Füllung ist phänomenal.«
»Sie sind durch die Füllung nahrhafter als die anderen und schmecken auch intensiver. Man sollte sie nur nach einer langen Wanderung essen. Gestern sind wir nicht so weit gewandert und deshalb gab es die einfacheren Fladen.«
»Ach so«, sagte Leeza, »Irgendwie ist hier alles so kompliziert, sogar das Essen.«
Syvenia lachte hell auf und bot Leeza einen Becher mit Wasser an. »Bitte, trink etwas. Das ist das restliche Wasser von der Quelle des vorigen Rastplatzes. Auch hier wird sich morgen früh bestimmt eine Quelle zeigen.«
Die Erwähnung der Quelle brachte Leeza auf eine weitere Frage: »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer dunklen und einer hellen Quelle? Und warum verstecken sich die hellen Quellen in der Nacht?«
»Lass uns zuerst fertig essen.« Syvenia nahm sich ein paar Beeren.
Leeza beeilte sich, ihren Fladen fertig zu essen und musste feststellen, dass ihr das Mühe bereitete, obwohl sie vorher einen riesigen Hunger verspürt hatte. Sie mussten wirklich sehr nahrhaft sein. Nachdem sie noch einige Beeren gegessen und den Becher mit Wasser ausgetrunken hatte, hatte sie tatsächlich das Gefühl, ein üppiges Mahl zu sich genommen zu haben.
»Bist du satt geworden?«, fragte Syvenia.
»Oh ja. In meinem Bauch ist kein bisschen Platz mehr übrig.«
»Dann ist es gut.« Die Magierin lächelte und packte die kümmerlichen Reste des Mahls zusammen.
In der Zwischenzeit war es ganz dunkel geworden und ihr kleines Feuer vermochte die Dunkelheit kaum noch zu erhellen.
Leeza schaute Syvenia an und fragte erneut: »Was ist jetzt mit diesen Quellen, Syvenia?«
»Ja, ich weiß ...«, sagte Syvenia und schwieg wieder.
Leeza wartete eine Weile darauf, dass Syvenia fortfahren würde, aber als sie merkte, dass sie tief in Gedanken versunken war, stupste sie sie sanft an. »Die Quellen, Syvenia. Ich fragte nach den Quellen.«
»Entschuldige Leeza. Ich möchte dir diese Frage wirklich gerne beantworten, aber …« Syvenia schüttelte den Kopf.
»Was, aber?«
»Es ist kompliziert zu erklären, so lange du noch nicht mehr über die Geschehnisse in Kysano weißt.«
»Dann sag mir mehr darüber«, schlug Leeza vor.
»Nein! Auf keinen Fall. Das ist nicht meine Sache.« Abwehrend hob Syvenia die Hände. Dann sah sie Leezas bedrückte Miene und sagte: »Na gut, ich versuche es dir mit einfachen Worten zu erklären, auch wenn dies nur eine ungenügende Beschreibung der Wirklich-keit ist.«
Leeza wusste, sie musste sich mit dem zufriedengeben, was Syvenia zu sagen bereit war, und blickte sie erwartungsvoll an. Syvenia betrachtete Leeza, die sie in der aufkommenden Dunkelheit nur noch schemenhaft erkennen konnte. Sie überlegte, wie sie mit ihrer Erklärung fortfahren sollte, ohne zu viel preiszugeben. Sie bewegte sich auf einem schmalen Grat, denn Leeza war klug und wenn sie ihr zu viel sagte, könnte sie Schlüsse ziehen, die sie noch nicht ziehen sollte.
»Nun«, fing sie dann an, »es existieren in Kysano von allen Lebewesen drei Ausformungen. Es gibt helle und dunkle Wesen und die Schattenwesen. Die hellen Wesen meiden die Dunkelheit und die dunklen meiden das Licht. Deshalb verbergen sich die hellen Quellen in der Nacht und kommen erst bei Tagesanbruch wieder hervor. Bei den dunklen Quellen verhält es sich umgekehrt. Schattenquellen hingegen zeigen sich nur während der Dämmerung, morgens und abends. Eine helle Quelle zeigt sich aber auch im Tageslicht nur hellen Wesen. Sie würde nie einem dunklen Wesen erlauben, von ihrem Wasser zu trinken oder ihr Wasser auch nur zu berühren. Würde ein dunkles Wesen nämlich ihr Wasser berühren, würde sie sich sofort auflösen und aufhören zu existieren. Mit den dunklen Quellen verhält es sich wieder genau umgekehrt. Schattenquellen jedoch entscheiden frei, ob sie von der dunklen oder von der hellen Seite gesehen werden wollen. Es gibt sogar Schattenquellen, die für beide Seiten gleichzeitig sichtbar sind. Deshalb muss man immer besonders vorsichtig sein, wenn man eine Schattenquelle sieht. Die Tatsache, dass du sie sehen kannst, heißt nicht unbedingt, dass sie eher hell als dunkel ist.«
Nach dieser Erklärung schwieg Syvenia und Leeza dachte über das eben Gehörte nach. Jetzt war ihr zwar Einiges klarer geworden, gleichzeitig hatten sich aber viele neue Fragen ergeben.
Sie wollte gerade eine von ihnen stellen, als Syvenia sagte: »Für heute hast du genug erfahren. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag.«
»Nur eines noch«, bat Leeza.
»Eine einzige Frage werde ich dir noch beantworten. Aber nur, wenn sie einfach ist.«
»Wie unterscheidet ein helles Wesen eine helle Quelle und eine Schattenquelle, wenn es doch beide sehen kann?«
»Oh Leeza!« Syvenia seufzte.
»Was ist? Das ist doch bestimmt keine schwierige Frage, oder?«
»Oh doch, sie ist sogar sehr schwierig.«
»Aber wieso denn?«
»Weil du noch nicht genug über Kysano und die Eigenheiten der einzelnen Wesen weißt.«
»Dann erklär mir mehr darüber!«
»Nein. Das ist nicht meine Sache und hier ist auch nicht der richtige Ort dazu. Vorläufig kann ich dir nur sagen, man kann den Unterschied zwischen einer hellen Quelle und einer Schattenquelle spüren.«
Leeza ahnte, aus Syvenia war heute kein Wort mehr herauszubekommen, sie sagte: »Ich versuche jetzt zu schlafen, Syvenia. Ich bin müde.« Sie legte sich auf den Boden.
»Das ist eine gute Idee. Es ist spät geworden und wenn wir morgen bis zu den Bergen kommen wollen, müssen wir früh aufbrechen«, antwortete Syvenia, sichtlich erleichtert, dass Leeza sich mit den vagen Antworten zufriedengab. Wieder schob sie dem Mädchen die Tasche unter den Kopf, damit sie es bequemer hatte. Mit geschlossenen Augen tat Leeza so, als ob sie schlafen würde. In Wirklichkeit dachte sie über alles nach, was Syvenia ihr heute erklärt hatte. Seit sie die Magierin vor zwei Tagen das erste Mal gesehen hatte, hatte sie unglaubliche Dinge erfahren. Was Syvenia über Kysano und diese Nebenwelt, in der sie mit ihrer Mutter gelebt hatte, gesagt hatte, verblüffte sie immer noch, und sie fragte sich, ob noch irgendjemand in Kysano von ihrer Heimat der vergangenen Jahre wusste. Sie notierte auch diesen Punkt auf ihrer gedanklichen Fragenliste.
Ein weiteres interessantes Thema war dieser Großmagier, von dem Syvenia so ungern sprach. Darüber hätte Leeza gerne mehr erfahren. Warum war das der Magierin nur so unangenehm? Sie verschob diese Frage auf ihrer Liste weit nach unten, denn verärgern wollte sie Syvenia nicht.
Irgendetwas an Syvenias Reaktion auf die Frage nach ihrer Mutter war Leeza auch seltsam erschienen. Sie grübelte, konnte aber nicht mehr sagen, was es gewesen war. Nach einiger Zeit schob sie diesen Gedanken beiseite. Durch angestrengtes Nachdenken würde sich die Erinnerung nur weiter zurückziehen. Ließ sie sie aber los, käme sie plötzlich ganz von selbst wieder hervor. Das wusste sie aus Erfahrung.
Stattdessen dachte sie über Syvenias Mitteilung nach, dass sie wichtiger sei, als sie sich vorstellen könne. Dieser Gedanken beunruhigte sie gehörig. Wieso um alles in der Welt war sie so wichtig? So wichtig, dass sich ihre Mutter mit ihr verbergen musste, und offenbar alle nach ihr suchten? Sie seufzte, denn sie wusste, auch das musste warten, bis sie diesen Großmagier traf.
Plötzlich spürte sie, dass sie zugedeckt wurde, und schaute auf.
Syvenia beugte sich über sie und sagte sanft: »Du solltest jetzt schlafen, Leeza. Morgen ist auch noch ein Tag, um nachzudenken.«
»Ja, aber was ist mit dir? Ich dachte, du schläfst längst.«
»Ich werde Wache halten.«
»Dann sollten wir uns abwechseln. Du musst doch auch schlafen. Sicher hast du auch schon gestern Nacht Wache gehalten. Bei einem Problem kann ich nicht viel tun, schon klar, aber ich würde dich sofort aufwecken.«
»Vielen Dank für das Angebot, aber ich brauche nicht viel Schlaf. Ich kann mich auch so ausruhen. Schlaf jetzt!«
Da Leeza wusste, dass Syvenia nicht mit sich diskutieren ließ, drehte sie sich auf die Seite und versuchte einzuschlafen. Sie war froh, eine Decke zu haben, in die sie sich hineinkuscheln konnte. Weniger der Kälte wegen, denn die Nachtluft war angenehm warm, sondern eher, weil die Decke ihr ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit gab. Wie am Abend zuvor fühlte sie, wie Syvenias Fingerspitzen ihre Stirn berührten, und der weiche Mantel des Schlafes legte sich über sie.
Als Syvenia sich davon überzeugt hatte, dass Leeza tief schlief, stand sie auf und streckte sich.
»Du hast Leeza viele Antworten gegeben«, sagte Jeera unvermittelt.
Syvenia sah ihn unsicher an. »Meinst du, ich habe ihr zu viel gesagt?«
»Nein, ich nicht«, antwortete Jeera vielsagend.
»Ach so, du denkst an Lestre.« Syvenia hatte seine Anspielung sofort verstanden.
»Stimmt. Er wird begeistert sein, meinst du nicht auch?«
»Vermutlich, aber was soll ich machen? Leeza hat diese Antworten verdient, schon allein deswegen, weil sie hier ist. Außerdem habe ich alles nur sehr allgemein gehalten und ihr nichts gesagt, woraus sie zu viele Schlüsse ziehen könnte.«
»Meinst du wirklich, damit kannst du Lestre besänftigen?«, meinte Jeera und kratzte sich zweifelnd mit der Tatze hinterm Ohr.
»Nein, ich werde seinen Zorn einfach über mich ergehen lassen müssen. Darüber haben wir doch schon gestern gesprochen.«
»Aber es ist seit gestern nicht einfacher geworden, oder? Ich möchte jedenfalls nicht in deiner Haut stecken, wenn du ihm gegen-überstehst.«
»Du warst gestern Abend schon so aufmunternd. Woran liegt das nur?«, fragte Syvenia säuerlich.
»Oh, das tut mir leid.« Jeera klang nicht überzeugend.
»Das tut es dir überhaupt nicht, das sehe ich dir doch an.«
»Jemand muss dich doch auf das vorbereiten, was dich erwartet.«
»Danke, aber das ist wirklich nicht nötig. Ich weiß sehr genau, was los sein wird, und du kannst mir glauben, ich freue mich nicht darauf. Eine kleine Aufmunterung deinerseits wäre hilfreich.«
»Na gut, ich werde es das nächste Mal versuchen.« Jeera gluckste vergnügt.
»Das wäre wirklich nett von dir.« Syvenia war ernsthaft verstimmt, drehte Jeera demonstrativ den Rücken zu und setzte sich wieder hin.
Erstaunt blickte Jeera sie an. Er kannte Syvenia schon sehr lange, aber noch nie hatte sie auf seine gelegentlichen Sticheleien so reagiert. Das war kein gutes Zeichen. Sie musste sehr besorgt sein. Er beschloss, ihr vorerst aus dem Weg zu gehen und einen Rundgang um das Lager zu machen. »Ich prüfe kurz die Umgebung. Bin gleich zurück.«
Syvenia brummte ihre Zustimmung, ohne ihn anzuschauen und auch, ohne ihn zu ermahnen, nicht zu weit wegzugehen. Sie schien wirklich wütend auf ihn zu sein. Schnell lief Jeera davon und bald hatte ihn die Dunkelheit verschluckt.
Er hat genau bemerkt, wie besorgt ich bin, dachte Syvenia, und das ist nicht gut. Ich sollte mich besser unter Kontrolle haben. Sie stand auf, entfernte sich ein Stück von ihrem Lager und schaute prüfend in die Dunkelheit. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich darauf, die Anwesenheit von anderen Wesen zu spüren. Nach einer Weile öffnete sie die Augen wieder und ging befriedigt zum Lager zurück. Sie hatte die Gegend in einem großen Umkreis abgesucht und keine Spur eines anderen Geschöpfes gespürt. Sie waren also sicher hier.
Sie legte sich neben Leeza ins Gras und betrachtete den Sternenhimmel. Bestürzt bemerkte sie, dass einige der Sterne irgendwie blasser wirkten als früher. Sie dachte gerade über die Bedeutung dieser Entdeckung nach, als sie ein leises Geräusch hörte. Sie setzte sich auf und sah sich wachsam um. Hatte sie bei ihrer Suche vorher eine Gefahr übersehen?
Als sie Jeera bemerkte, der aus der Dunkelheit auf sie zulief, atmete sie erleichtert auf. »Ach du bist es, Jeera.«
»Natürlich, wer sollte es denn sonst sein?«
»Nun, da gäbe es doch wohl einige Möglichkeiten, oder?«
»Ja, grundsätzlich schon, aber du hast vorhin schließlich die ganze Gegend abgesucht. Nachdem du dich danach entspannt ins Gras gelegt hast, nehme ich an, du hast keine Anzeichen für andere Wesen gefunden.«
»Du hast mich bemerkt?«, fragte Syvenia bestürzt.
»Dein Geist hat mich gestreift, als er seine Kreise zog. Hast du wirklich gedacht, ich würde ihn nicht bemerken?« Jeera klang geradezu beleidigt.
»Ich wusste nicht, dass du mich spüren könntest. Ich war doch sehr vorsichtig bei meiner Suche«, sagte Syvenia besänftigend.
»Ich spüre sehr viel. Mehr, als ihr alle annehmt.«
»Denkst du, Lestre hat es ebenfalls bemerkt?« Syvenia wirkte verunsichert.
»Nein, eher nicht. Wir sind noch weit von ihm entfernt und du hast nur sehr wenig Magie benutzt«, sagte Jeera beruhigend.
Syvenia schaute ihn zweifelnd an. Sie kannte Lestres Fähigkeiten und wusste genau, ihm entgingen nicht die feinsten Schwingungen.
»Ich weiß nicht, Jeera. Ich kenne Lestre besser als du. Er hat bestimmt etwas bemerkt.«
»Weshalb fragst du mich denn überhaupt, wenn du dir schon so sicher bist?«
»Weil ich dachte, ich würde mich besser fühlen, wenn du nein sagst.«
»Und? Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte Jeera mit einem Kopfschütteln.
»Leider nicht.« Syvenia seufzte. »Irgendetwas musste ich doch tun. Wenn ich schon keinen Schutzzauber benutzen darf, muss ich doch wenigstens dafür sorgen, dass unsere Umgebung sicher ist.«
»Ich verstehe das. Ob Lestre das genauso sieht, weiß ich nicht.«
»Verschlimmern kann ich ja nichts. Auf mehr Ärger kommt es nicht mehr an.« Syvenia lachte resigniert.
»Das ist die richtige Einstellung«, sagte Jeera aufmun-ternd und legte sich bequem hin. Nach einigem Überlegen fragte er: »Habe ich dich vorhin wütend gemacht?«
»Nein. Oder doch, ja! Aber das war meine Schuld. Ich sollte dich und deine Sticheleien nun wirklich gut genug kennen, um mich nicht darüber zu ärgern. Ich bin etwas müde und deshalb gereizt. Leezas Fragen zu beantworten ist nicht einfach.«
»Das glaube ich gern. Sie ist klug und wird schnell die richtigen Schlüsse ziehen, wenn du ihr zu viel sagst.«
»Ja, ich fürchte immer, zu viel zu sagen, und dennoch will ich sie nicht mit nichtssagenden Worten abspeisen, denn das hat sie nicht verdient.«
»Stimmt. Aber jetzt solltest du schlafen. Ich werde heute Nacht Wache halten.«
»Das geht doch nicht.«
»Und ob das geht! Wenn etwas ist, wecke ich dich sofort. Du weißt, ich habe Kräfte, die ich nutzen kann, falls es nötig sein sollte.«
»Aber …«
»Kein aber! Schlaf jetzt«, sagte Jeera. Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch.
Syvenia wusste, sie konnte sich auf Jeera verlassen und legte sich endlich ins Gras.
Nachdem sie eine Weile beobachtet hatte, wie der Waschbär noch einmal die Umgebung prüfte und sich danach befriedigt wieder hinsetzte, um Wache zu halten, schloss sie die Augen und ruhte ihren Geist aus. Obwohl sie eigentlich nur etwas dösen wollte, schlief sie bald ein.
Jeera wartete ein paar Minuten, bevor er sich erhob und zu Syvenia schlich, um zu sehen, ob sie wirklich schlief. Als er sich ver-gewissert hatte, dass auch Leeza tief und fest schlummerte, entfernte er sich ein Stück von den beiden und benutzte seine eigene Magie, um mit Lestre Kontakt aufzunehmen.
Lestre stand in einem dunklen Raum am Fenster und wartete darauf, ein Zeichen von Jeera zu erhalten, so wie schon öfters, seit die drei Kysano erreicht hatten. Als Syvenia ihm mitgeteilt hatte, dass sie mit Leeza und dem Waschbären hier sei, hatte er mit Jeera Kontakt aufgenommen. Damit Lestre über ihre Wanderung wachen konnte, sollte Jeera sich regelmäßig melden.
Jeera war sehr zuverlässig und hielt ihn immer auf dem Laufenden. Dadurch hatte der Großmagier die Möglichkeit, den Weg zu sichern. Es war nämlich weniger dem Glück der kleinen Gruppe zu verdanken, sondern eher Lestres starker Magie, dass sie bisher in keine gefährliche Situation geraten waren.
Während er im Dunkeln wartete, dachte er darüber nach, wie er Leeza und Syvenia gegenüber reagieren sollte. Als Großmagier des inneren Zirkels wäre es an ihm gewesen, eine Entscheidung zu treffen. Syvenia hatte ihn schlichtweg übergangen und im Alleingang entschieden, Leeza zu holen. Oder jedenfalls dachte sie das. Sie hatte keine Ahnung, dass er schon lange über ihre Pläne Bescheid gewusst hatte, und das musste unbedingt so bleiben. Er wollte sie im Glauben lassen, es sei allein ihre Entscheidung gewesen. Das bedeutete, er würde ihr gegenüber extrem zornig wirken müssen. Sobald sie ihn aufsuchte, musste er sie ganz klar in die Schranken weisen, durfte aber gleichzeitig Leeza nicht verschrecken, denn ihr Vertrauen in ihn war unbedingt erforderlich.
Er spürte, wie Jeera ihn zu erreichen versuchte. Sofort schob er alles beiseite und öffnete seinen Geist, um dessen Gedanken zu empfangen.
Syvenia erwachte aus tiefem Schlaf, öffnete die Augen, setzte sich langsam auf und blickte sich suchend um. Sie sah Jeera ein ganzes Stück vom Feuer entfernt im Dunkeln sitzen. Es schien alles in bester Ordnung zu sein, also weshalb war sie so plötzlich aufgewacht? Kaum hatte sie sich diese Frage gestellt, wusste sie auch schon die Antwort. Da war eine starke Suchmagie zu spüren, auch jetzt noch. Sie wollte gerade nach Jeera rufen, da drehte er sich um und schaute sie an. Als er merkte, dass sie aufgewacht war, erhob er sich und lief zu ihr hinüber.
»Was ist los, Syvenia? Kannst du nicht mehr schlafen?«
»Hast du das eben nicht wahrgenommen?«
»Was meinst du?«, fragte Jeera vorsichtig.
»Die Suchmagie! Hast du sie nicht gespürt?«
»Ach so, die Suchmagie meinst du. Doch, natürlich«, antwortete Jeera erleichtert.
»Warum hast du mich nicht geweckt?« Syvenia sah ihn vorwurfsvoll an.
»Wieso hätte ich das tun sollen? Die Suchmagie ist an uns vorbeigezogen, ohne uns zu bemerken. Es gab keinen Grund, dich aus deinem wohlverdienten Schlaf zu wecken.«
»Sie hat uns nicht bemerkt? Wie ist das möglich? Wir haben uns doch überhaupt nicht gegen Suchmagie geschützt.«
»Vermutlich war sie nicht stark genug.«
»Nicht stark genug?«, fragte Syvenia ungläubig. »Das ist ja wohl kaum möglich, wenn sie mich geweckt hat. Reste davon sind sogar jetzt noch spürbar, und du willst mir weismachen, sie sei nicht stark genug gewesen?«
»Nun, das ist die einzige Erklärung, die ich im Moment dafür habe. Wir haben sie bemerkt, aber sie hat uns nicht bemerkt. Was auch immer der Grund dafür war, wir sollten froh sein und hoffen, dass sie nicht wiederkommt.«
»Wer auch immer diese Suchmagie losgeschickt hat, wollte uns unbedingt finden. Ich werde mit Lestre darüber sprechen, sobald wir angekommen sind.«
»Vielleicht hat er eine gute Erklärung«, sagte Jeera und dachte bei sich, dass Lestre sich dazu wohl erst eine gute Erklärung ausdenken musste, denn natürlich waren sie durch dessen Magie gegen die Suchmagie geschützt gewesen. Er war heilfroh darüber, dass er seine Verbindung zu Lestre bereits unterbrochen hatte, als die Suchmagie über sie hinwegzog. Nicht wegen der Suchmagie, denn gegen die hatte Lestre ihre gedankliche Verbindung selbstverständlich geschützt, sondern wegen Syvenia, denn wäre sie nur einen Augenblick früher aufgewacht, hätte sie die magischen Reste der Verbindung zu Lestre eventuell bemerkt und das wäre ganz schlecht gewesen.
Copyright © 2015 Beatrice Hiu
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